Der Weg in Die Schatten
ich seine Launen hasse und... auch andere Dinge. Der Punkt ist, einfach das Wissen, dass Ihr da draußen seid und Euch an mir liegt, lässt mich glauben, dass ich mehr wert bin als eine lausige Heirat mit dem ersten Mann, der bereit ist, einem vernarbten Mädchen einen Antrag zu machen. Dieses Wissen gibt mir das Zutrauen, dass Gott etwas Besseres für mich bereithält.« Oh, sie glaubt also an Gott. Wunderbar. Daher kannte sie also die Drakes. »Danke. Und ich entschuldige mich wegen meines letzten Briefes, ich schäme
mich furchtbar für das, was ich geschrieben habe. Bitte, ignoriert alles, was ich gesagt habe.«
Hm? Kylar wandte sich dem vorherigen Brief zu und konnte sich eines Grinsens nicht erwehren. Elene war tief in den Fängen einer ausgewachsenen romantischen Fantasie gewesen, wie sie für sechzehn Jahre alte Mädchen typisch ist. »Ich denke, ich bin in Euch verliebt. Tatsächlich bin ich davon überzeugt. Als ich im vergangenen Jahr zu Graf Drake gegangen bin, um meinen Brief abzugeben - Mutter erlaubt mir endlich, einige Dinge selbst zu tun -, denke ich, habe ich Euch gesehen. Vielleicht wart Ihr es gar nicht. Aber Ihr hättet es gewesen sein können. Da ist dieser Junge, ein junger Lord wie Ihr. Er sieht so gut aus und ist unheimlich beliebt. Ich meine, man kann einfach erkennen, wie viel alle von ihm halten, selbst Graf Drake. Ich meine, ich weiß, dass Ihr nicht wirklich dieser Junge seid, weil er nicht reich ist wie Ihr. Weil seine Familie arm ist, lebt er bei den Drakes...« Kylar schnappte nach Luft. Elene hatte ihn gesehen. Sie hatte ihn vor einem Jahr gesehen und gedacht, er sehe gut aus. »... aber was spielt Geld schon für eine Rolle, wenn man Liebe hat?«
Da waren... nein ... doch, da waren Tränenflecken auf der Seite.
Nun, Kylar war mit drei Mädchen aufgewachsen. Es überraschte ihn nicht allzu sehr. Er fragte sich nur, wann Elene angefangen hatte zu weinen. »Da Ihr also der starke, schweigsame Typ seid und mir nie auf meine Briefe antwortet, habe ich beschlossen, Euch Kylar zu nennen. Ich nehme an, Ihr würdet mich vielleicht fett und hässlich finden und denken, ich hätte eine große Nase und... es tut mir SO leid. Ich sollte von vorn anfangen, aber Mutter sagt, ich hätte auch so schon zu viel Papier verbraucht. Es tut mir leid. Ich bin ein furchtbares Balg. Aber könnt Ihr mir nicht ein einziges Mal zurückschreiben?
Und Graf Drake bitten, mir Eure Antwort im nächsten Jahr zu geben, wenn ich meinen Brief hinterlege? Pol sagt, ich sei nicht in einen Mann vernarrt, ich sei in einen Beutel Geld vernarrt.« Elene wusste nichts über ihn, aber he, sie war kaum sechzehn gewesen, und Kylar hatte noch immer den Wunsch, Pol in den Hintern zu treten. »Aber das ist nicht wahr. Und es ist keine Vernarrtheit. Ich liebe Euch, Kylar.«
Bei diesen Worten überlief ihn ein Frösteln. Wie sehr wünschte er sich, diese Worte zu hören! Wie sehr wünschte er sich, sie von ihr zu hören. Und da standen sie. Da standen sie, an ihn gerichtet und doch wieder nicht. Sie sagte diese Worte zu ihm, wobei sie nicht dachte, dass er er war, nicht wusste, dass Graf Drake ihre Briefe Durzo gab, nicht wusste, dass Kylar wirklich ihr junger Wohltäter war, nicht wusste, dass Kylar in Wirklichkeit Azoth war, nicht wusste, dass Kylar ein Mörder war, nicht wusste, dass er sie für das eine Mal, da sie ihn gesehen hatte, selbst Hunderte von Malen sah: Zweimal jede Woche, wann immer er es zum Markt unweit des Sidlinwegs schaffen konnte. Er hatte sie auf diesem Markt aufwachsen sehen und sich tausendmal gesagt, dass er nächste Woche nicht hingehen und versuchen werde, einen Blick auf sie zu erhaschen, doch immer war er der Versuchung erlegen. Er hatte sie von Ferne beobachtet und seine eigene Vernarrtheit entwickelt, nicht wahr? Er hatte sich gesagt, dass sie einfach eine verbotene Frucht war, dass das alles war, was ihren Reiz für ihn ausmachte. Er hatte sich gesagt, dass er nur sehen wollte, dass es ihr gutging. Als das nicht funktionierte, sagte er sich, dass es vorübergehen würde.
Er war jetzt zwanzig Jahre alt, und er wartete noch immer darauf, dass es vorüberging. Seine plötzliche Hoffnung - sie war in ihn vernarrt gewesen! - prallte auf die Realität wie gandisches Porzellan, das auf den Boden prallte. Das zarte Gitterwerk
dünner Möglichkeiten zerbarst. Jetzt ergab der erschütterte Ausdruck auf ihrem Gesicht gestern mehr Sinn. Die Offenbarungen, die so süß für sie hätten sein können - ich bin
Weitere Kostenlose Bücher