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Der Weg in die Verbannung

Der Weg in die Verbannung

Titel: Der Weg in die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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der Raubvogel für seinen Horst erkoren hatte. Starke Zweige, dick wie kleine Stämme, hatte er dort zusammengetragen. Die Platte ließ sich sehr bequem anfliegen. Der Adler befand sich jetzt nicht in seinem Horst.
    Die beiden Indianer spähten und warteten, bis es ganz dunkel geworden war. Aber der Vogel kam an diesem Abend nicht zurück. Des Nachts flogen Adler nicht. Mattotaupa und Harka stiegen daher von dem Gipfel wieder ab zu ihren Pferden, um bei diesen die Nacht im Walde zu verbringen.
    Lange vor Morgengrauen machten sie sich abermals zum Gipfel auf. Als sie oben ankamen, war es noch finster. Der Gipfelwind wehte kalt; er wurde noch schärfer und kälter, als die Dämmerung begann und im lichten Grau des Himmels nur noch der Morgenstern und die Sichel des abnehmenden Mondes leuchteten. Endlich stieg die Sonne über den Horizont. Harka, der diesen Augenblick des beginnenden Tages schon tausend Male wach erlebt hatte, freute sich immer wieder daran, so wie die sich öffnenden Blüten und Blätter, wie die aufsummenden Insekten, wie das Wild, das sich im Lichte weniger vor dem schleichenden Raubzeug zu fürchten hatte. Der Horst war leer und blieb auch leer.
    Die Indianer verbrachten nicht den ganzen Tag auf dem Gipfel. Sie benutzten die Stunden, um sich wieder zu ihren Pferden zu begeben und mit ihnen zum Fuß des zerklüfteten Berges zu reiten, an dem sich der Horst befand. Gut verdeckt banden sie die Tiere wieder an, die fleißig am Gesträuch knabberten, und schlichen selbst zu einem der Felsenriffe, das nicht weit von dem mit dem Horst gekrönten Turm aufstieg. Die Südseite dieses Riffes war griffig und trotz der Steilheit für einen gewandten Menschen leicht ersteigbar. Die beiden Indianer kletterten hinauf und zogen am Lasso alle Waffen nach, die sie beim Klettern nicht tragen konnten. Auf dem schmalen Felsgipfel oben nisteten sie sich ein, möglichst so, daß sie vor dem Horst versteckt blieben. Sie zweifelten zwar nicht, daß der Adler sie sehen konnte, wenn er den Horst anflog. Aber wenn sie sich vollständig regungslos verhielten, faßte er vielleicht keinen Verdacht. Vögel reagierten vor allem darauf, ob sich etwas bewegte. Der Tag verging, und der Abend kam, ohne daß der Adler zu seinem Horst zurückkehrte.
    »Es muß etwas geschehen sein«, sagte Mattotaupa zu Harka. Die beiden saßen im Sternenlicht der beginnenden Nacht zusammen. »Als ich diesen Horst in den vergangenen Tagen während meiner Jagd beobachtete, flog der Adler täglich ein und aus. Ich hatte damals schon Lust, ihn zu erlegen, wollte mich aber nicht damit aufhalten, da ich dich allein wußte. Hätte ich ihn doch abgeschossen!«
    »Ja, das wäre besser gewesen«, meinte Harka und lächelte. »Aber was könnte geschehen sein? Warum kommt er nicht mehr?«
    »Vielleicht ist es ihm eingefallen, sich einen neuen Horst zu bauen. Wer weiß das!«
    Die beiden Indianer warteten noch einen dritten Tag. Da sie den Adler aber auch nicht im Fluge in den Lüften entdecken konnten, gaben sie ihr Jagdunternehmen schließlich enttäuscht auf und ritten zu dem kleinen Hochtal zurück.
    Als sie bei Sonnenaufgang den Beginn des Felspfades erreichten, der zu der Quelle und den Wiesen führte, hieß Mattotaupa seinen Jungen mit den Pferden warten. Er wollte erst allein spähen, ob in dem Unterschlupf noch alles in Ordnung sei. Harka ließ sich bei den Tieren nieder. Obgleich er horchte, konnte er die Schritte seines Vaters im Fels nicht hören. Die Füße gingen in den weichen Mokassins lautlos über den Stein. Aber irgend etwas hörte Harka, einen Laut, dessen Natur er nicht ergründen konnte. Zwei Bienen summten um die Bergblumen, die kräftig in der Farbe, auch würzig und stark dufteten. Von fern her war das Geschrei der Dohlen zu vernehmen. Das war natürlich und leicht erkennbar. Aber Harka hörte noch etwas, einen dumpfen Laut, als ob Fleisch zerrissen werde. Dieses Geräusch konnte er sich nicht ohne weiteres erklären. Er lauschte angestrengt.
    Auf einmal vernahm er einen leisen Laut, dessen Natur ihm von frühester Kindheit an vertraut war: das singende Surren einer Bogensehne beim Abschuß des Pfeils. Hatte der Vater geschossen? Oder irgendein versteckter Gegner? Harka mußte an seinem Platz bleiben. Er konnte nicht einfach von den Pferden weglaufen. Aber er wartete jetzt mit großer Spannung.
    Er hatte nicht lange zu warten. Mattotaupa kehrte über den Felspfad zurück; plötzlich stand er vor dem Jungen. Er lachte!
    »Vater! Ich habe die

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