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Der Weg in die Verbannung

Der Weg in die Verbannung

Titel: Der Weg in die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Pferde.
    Am Morgen schien der Adler neuen Lebensmut gefaßt zu haben. Als Harka und Mattotaupa aus dem Bach getrunken hatten und wieder still bei ihrer Grube saßen, fing der große Vogel an, das Fleisch zu verzehren, das er immer noch zwischen den Fängen hielt. Harka sah ihm zu, bis der letzte Brocken im Schnabel verschwunden war.
    »Vorläufig ist er satt«, meinte er dann zum Vater gewandt. »Aber was macht er, wenn er Durst hat?«
    »Dann kommt er zur Quelle herunter.«
    Der Adler saß den ganzen Tag über wieder wie ein Standbild und strich nur alle paar Stunden den verwundeten Flügel mit dem Schnabel. Die Indianer vergnügten sich weiter, ihn zu beobachten. Am dritten Tag überwältigte der Durst das Tier. Den gesunden Flügel spreizend, hüpfte der Adler von dem Stein herunter und nippte das Quellwasser.
    Als sein Durst gelöscht war, mußte er einsehen, daß er nicht mehr auf den Felsblock hinaufgelangen konnte. Nach zwei vergeblichen Versuchen gab er das Bestreben auf. Er saß nun auf der Wiese bei der Quelle, mit der ganzen Würde, die ein schweigender Verzicht verleiht. Den Kopf hob er stolz, und seine Augen blieben lebendig; unentwegt beobachtete er, wie sich die beiden Indianer nun verhalten würden. Harka schnitzte an der Flöte, die er sich aus einem starken hohlen Stengel herstellen wollte. Mattotaupa schaute zum Himmel hinauf und griff dann nach Pfeil und Bogen. Als Harka dies bemerkte, schaute er auch in die Hohe. Über den Bergen schwebten zwei Geier. Sie zogen ihre Kreise immer mehr zu dem kleinen Tale her, und auch der Adler begann jetzt nach ihnen zu äugen. Er sträubte das Gefieder.
    »Die Geier wollen den lahmen Adler überfallen«, sagte Harka. »Tothacken und zerfleischen wollen sie ihn, so wie der Adler es einmal mit mir vorhatte.« Der Junge hatte die Flöte weggelegt und spielte mit den drei Schwanzfedern, die der Grauschimmel dem Adler ausgerissen hatte. Schöne Federn waren das.
    Mattotaupa hatte einen Pfeil eingelegt; einen zweiten hielt er zwischen den Zähnen bereit. Der Adler beobachtete mit seinen scharfen Augen alles, was vor sich ging, sowohl die kreisenden Geier als auch jede Bewegung der Indianer. Er war sichtlich entschlossen, sein Leben teuer zu verkaufen.
    Einer der Geier stieß herab. Der Adler hackte kräftig nach ihm, und der Geier drehte eine Schleife, um das verwundete Tier im Rücken zu fassen.
    Er begann zu flattern, und das war der Augenblick, in dem Mattotaupa schoß. Der Pfeil drang in die Brust des Geiers, und dieser stürzte wie ein Stein auf die Wiese.
    Der Adler betrachtete den toten Geier und sperrte dabei noch wütend den Schnabel auf. Aber dann begriff auch er sehr schnell, daß er von seinem Feind befreit war.
    Der zweite Geier wagte keinen Angriff mehr. Er verzog sich nordwärts. Als die Indianer sich lange genug nicht rührten, bekam der Adler Mut. Er tappte zu dem Geier hin, zerhackte den toten Feind und fraß. Er hatte wieder Hunger. Als er sich gesättigt hatte, begann er von neuem seinen verletzten Flügel mit dem Schnabel zu streichen. Dabei äugte er noch hin und wieder zu den Indianern hin, aber nicht mehr so scharf und mißtrauisch wie bisher. Er schien erfaßt zu haben, daß sie es waren, die den Geier getötet hatten.
    Verbündeter eines Kriegsadlers zu sein, machte Harka Spaß. Er schnitzte seine Flöte fertig und versuchte darauf zu spielen. Es kamen noch einige Mißtöne heraus, aber endlich gelang es ihm, eine der einfachen Tonfolgen zu spielen, die er bei den heimischen Zelten gelernt hatte. Der Raubvogel horchte auf.
    Das vorsichtige Spiel zwischen den beiden Menschen und dem Tiere setzte sich noch tagelang fort. Harka legte es jetzt auf den Versuch an, ob er den Adler an sich gewöhnen könne. Er warf ihm Hautfetzen und halb abgenagte Knochen hin. Es dauerte geraume Weile, bis der große Vogel erkannte, daß dies Werfen kein Angriff auf ihn sein sollte, sondern Futter bedeutete. Als er Vertrauen gefaßt hatte, begann er, sein Futter zu verlangen und streckte den Kopf mit geöffnetem Schnabel vor, wenn er Hunger hatte oder wenn er die beiden Menschen essen sah. Mattotaupa ging noch zweimal auf Jagd und brachte wieder Fleisch genug mit. Die Bergwälder waren wildreich.
    Als der Indianer das zweitemal zurückkehrte, erblickte er ein unerwartetes Bild: Der Knabe saß neben dem Adler. Gegen den herankommenden Mattotaupa sperrte der Raubvogel eifersüchtig abwehrend den Schnabel auf. Mattotaupa lachte und ging zu der Grube hinauf, wo er

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