Der Weg in die Verbannung
seine Beute ablud. Von nun an gehörte der Adler mehr und mehr zu der kleinen Gemeinschaft von Lebewesen, die miteinander in dem abgelegenen Hochtal hausten. Er konnte den verletzten Flügel wieder auf dem Rücken zusammenfalten, und hin und wieder breitete er schon beide Schwingen aus, aber noch ohne zu fliegen. Auf seinen starken Klauen tappte er lebhaft auf den Wiesenhängen umher und holte sich seinen Anteil an Mattotaupas Beute wie einen Tribut, der ihm zu zollen war. Eines Morgens, als Harka nicht aufpaßte, holte sich der Adler den Speer und den Bogen des Jungen weg und wollte sich offenbar auf dem Felsblock bei der Quelle einen neuen Horst bauen. Sein verletzter Flügel hatte schon wieder so viel Kraft gewonnen, daß der Raubvogel auf den Steinblock hinaufflattern konnte.
Harka versuchte, sich seine Waffen wiederzuholen. Aber der Adler verteidigte den Beginn seines Horstbaus und hackte nach Harka, nicht bösartig, aber durchaus entschlossen, sich nichts mehr wegnehmen zu lassen. Mattotaupa hatte seinen Spaß an dieser Auseinandersetzung. Harka stellte sich vor dem Felsblock auf, verschränkte die Hände auf dem Rücken und begann, dem Adler eine Rede zu halten. Der Junge hatte in den vergangenen Wochen sehr wenig Gelegenheit gehabt zu sprechen, denn der Vater war schweigsam, und so machte es dem Knaben Freude, sich mit dem Adler zu unterhalten.
»Kriegsadler, Häuptling der Vögel?« sprach er ihn höflich an. »Du hast meinen Speer und meinen Bogen geraubt. Das ist unter Brüdern nicht üblich, und du mußt einsehen, daß du dir selbst schadest, wenn du mich wehrlos machst, denn wir sind Verbündete! Hast du nicht gesehen, wie Mattotaupa, mein Vater, den Geier abschoß? Auch ich würde bereit sein, dir auf diese Weise zu helfen. Aber du mußt dich wie unser Bruder verhalten, sonst sind wir gezwungen, dich zu vertreiben! Wenn du dich hier wie ein Räuber benimmst, so werden wir uns daran erinnern, daß du mich angegriffen, gehackt und beinahe ermordet hast. In deinen Horst wolltest du mich schleppen und mich fressen, wie man zwar einen Präriehund fressen kann, aber nicht den Sohn eines Häuptlings der Bärenbande vom Stamme der Oglala bei den sieben Ratfeuern der Dakota!«
Als Harka seine Rede so weit gesprochen hatte, schaute der stumme Zuhörer den Jungen immer noch unverwandt mit seinen Adleraugen an. Harka selbst aber fuhr bei seinen letzten Worten, die ihm glatt und gewohnt von der Zunge geglitten waren, innerlich zusammen, denn er empfand in diesem Moment wie einen heimlichen Messerstich den Widerspruch zwischen dem, was sein Vater und er im Frühsommer noch gewesen waren, und dem, was sie nun im beginnenden Herbste waren. Häuptling der Bärenbande bei dem tapferen und gefürchteten Stamme der Oglala, das heißt bei den »Leuten, die ihre Habe verschleudern«, bei Kriegern, die so reich an Beute und Pferden zu sein pflegten, daß sie verschenken und verschwenden und sich auch dadurch Ruhm gewinnen konnten, das war Mattotaupa gewesen, solange Harka überhaupt denken konnte. Trotz aller Hungersnöte im Frühjahr, und obgleich das Leben hart und gefährlich gewesen war, war es in Harkas Rückerinnerung ein Leben voll Freude und Stolz. Der Vater Häuptling und er, sein ältester Sohn, Anführer des Bundes der Jungen Hunde und schon vorbestimmt, mit vierzehn Jahren Anführer des Bundes der Roten Feder zu werden! Das waren sie gewesen. Nun aber war der Vater ein Verbannter, Geächteter und Verachteter, als ein Verräter ausgespien von seinem Stamme, weil Hawandschita, der Zaubermann, ihn verleumdete, er habe das Geheimnis des Goldes in den Schwarzen Bergen an einen weißen Mann, an Jim, The Red, im Trunke verraten.
Niemals hatte der Vater das getan, nein, niemals. Er könnte kein Verräter sein. Weil der Vater unschuldig sein mußte, war Harka ihm heimlich in die Verbannung gefolgt.
Nun hatten sie einen Sommer hindurch miteinander einsam in den Bergen gelebt. Es war kein schlechtes Leben. Harka gefiel es, mit dem Vater zusammen zu sein und zu jagen. Aber dies war ein Leben für den Sommer, nicht für den Winter, und nicht auf Jahre hinaus. Mattotaupa sollte wieder Häuptling werden. Die Krieger der Bärenbande mußten begreifen, daß er unschuldig war. Das mußten sie begreifen lernen!
Harka hatte mit solchen Gedanken eine lange Pause in seiner Rede an den Adler eintreten lassen. Jetzt holte er seine Flöte, spielte dem Raubvogel einige Töne vor und versuchte dann, auf ruhige Weise und ohne Furcht zu
Weitere Kostenlose Bücher