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Der Weg ins Dunkel

Der Weg ins Dunkel

Titel: Der Weg ins Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Woodhead
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Trennscheibe zwischen Fond und Fahrerkabine fiel. Einen Moment lang hielt er in der Bewegung inne und starrte auf seinen massigen, unansehnlichen Körper wie ein Chirurg, der überlegte, wo er den ersten Schnitt ansetzen sollte.
    Trotz ihres Umfangs waren seine Oberarme nicht muskulös, sondern steckten wie Rohre in seinen Schultern. Um die Körpermitte dagegen quoll sein Bauch über die Hüften. Er beugte sich noch weiter zu der Scheibe vor, um sein Gesicht zu betrachten. Er leckte sich mit der Zunge über die Zähne und beschloss, sie in Kürze nachbleichen zu lassen. Dann betrachtete er seine hohen Wangenknochen und das breite Kinn. Es floss zwar nur ein Bruchteil mongolischen Bluts in seinen Adern, aber die Bastarde aus der Gilde ließen ihn nie vergessen, dass er keiner von ihnen war, egal, wie weit er in der Hierarchie aufstieg. Aber das würde bald keine Rolle mehr spielen. Nur noch ein paar Wochen, und er wäre sie ein für alle Mal los.
    Er begann, die verfärbte Stelle zu kratzen, die sich über dem trockenen Fleck unterm Hemdkragen an seinem Hals hinaufzog. Die oberste Hautschicht löste sich dort schuppig ab, und die Hautschicht darunter war etwas dunkler. Er kratzte die Schuppen ab und fragte sich zum wiederholten Mal, wo diese merkwürdige Veränderung wohl herrührte. Er wusste, dass er einen Arzt aufsuchen sollte, aber dafür hatte er momentan keine Zeit. Sobald der zwanzigste Satellit erfolgreich in seine Umlaufbahn geschossen worden und das Finanzielle geregelt war, würde er sich darum kümmern.
    Ein lauter Klingelton riss ihn aus seinen Gedanken. Er lehnte sich zurück und drückte die Sprechtaste auf der Konsole zwischen den Sitzen.
    «General, eine Nachricht des Generalsekretärs Kai Long Pi.»
    Jian atmete scharf ein. Es war immer wieder erstaunlich, wie schnell die Gilde über alles informiert war. Schließlich hatte er die Sitzung gerade erst verlassen.
    «Ich soll Ihnen ausrichten, dass Herr Xie Sie heute noch aufsuchen wird.»
    «Herr Xie?»
    «Richtig, General. Sie sollen Herrn Xie bezüglich des Goma-Projekts auf den neuesten Stand bringen. In einer Stunde trifft er bei Ihnen zu Hause ein.»
    Jian ließ die Mundwinkel sinken. Er hasste die selbstherrliche Art von Kai und seinen Schergen.
    «Ich habe vorher noch etwas Wichtiges zu erledigen, aber ich werde um 14.00  Uhr da sein.»
    «Aber General, Herr Xie …»
    «Herr Xie wird sich ein paar Stunden gedulden können. Ein vielbeschäftigter Mann wie er hat gewiss noch etwas anderes zu tun, sodass kein Leerlauf entsteht.»
    Es dauerte einen Moment, ehe der Mann, der in Kais Auftrag anrief, sagte: «Sehr wohl, General. Ich werde ihn über Ihre Verspätung informieren.»
    Jian hämmerte auf die Aus-Taste. Jeder Kontakt mit der Gilde machte ihn nur noch wütender. Am wütendsten war er darüber, dass ihm in seiner Position weitgehend die Hände gebunden waren. Das Sagen hatten die Finanziers des Goma-Projekts, und sie ließen kaum einen Tag vergehen, ohne ihn daran zu erinnern.
    Knapp dreihundert der einflussreichsten Familien Chinas waren direkt oder indirekt in die Gilde eingebunden – eine Organisation, die ihre Finger in allem hatte, was auf dem Festland von Bedeutung war. Hauptsächlich bestand sie aus ranghohen Armeeoffizieren wie Jian selbst sowie Parteimitgliedern aus dem Politbüro. Seit dem Sturz Mao Zedongs in den 1970 er Jahren gab es kein größeres Projekt welcher Art auch immer, das nicht – im Hintergrund, aber entscheidend – von der Gilde beeinflusst wurde.
    Doch die Gilde war ein unstetes Gebilde, vielschichtig und komplex. Familien, die an einem bestimmten Projekt interessiert waren, bildeten Allianzen, aber dieselben Familien bekämpften einander bis aufs Blut, wenn sich ihre Interessen bei einem anderen Projekt unterschieden, sodass die jeweiligen Bündnisse brüchig und kurzlebig waren und einem ewigen Machtgerangel unterlagen. Es gab jedoch Situationen, in denen die internen Machtkämpfe ruhen mussten. Das war der Fall, wenn es um ein Projekt von besonderem Ausmaß und besonderer Bedeutung ging. Dann standen alle Familien dahinter, denn von seinem Erfolg profitierten alle, und ein Misserfolg würde alle vernichten.
    Das Goma-Projekt hatte diese Größenordnung, und alle wussten es. Es ging um zu viel, als dass auch nur eine Familie hätte ausscheren können, und alle lauerten darauf, dass sich ihre Investitionen auszahlten. Der Druck war enorm, die Erwartungen ebenso. Seit eineinhalb Jahren bekam Jian das

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