Der Weg ins Dunkel
mit dem er unterwegs war, plötzlich verschwand.»
René nahm einen Schluck Tee und schüttelte sich, als ihm der Brandy durch die Kehle floss. «Du weißt ja, dass Jack ein einflussreicher Mann ist und wie weit seine Möglichkeiten reichen. Er hat alles versucht – die Vereinten Nationen, das Konsulat in Kigali, Amnesty International und so weiter und so fort. Er hat sogar schon daran gedacht, sich selber nach Joshua auf die Suche zu machen, aber er musste einsehen, dass er dazu nicht mehr in der Lage ist. Ich glaube, dafür ist seine Trinkerkarriere zu weit fortgeschritten.»
Luca starrte wieder ins Feuer. Jack Milton. Diesen Namen hatte er seit über zwei Jahren nicht mehr gehört, aber bei der bloßen Erwähnung fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt. Es war Jack gewesen, der ihn zum Bergsteigen gebracht hatte. Von Anfang an hatte Jack etwas Besonderes in Luca gesehen und es beharrlich gefördert. Stundenlang war er mit ihm in Kletterwände gestiegen, und aus Nachmittagen waren Abende geworden, wenn sie kein Ende finden konnten und eine Wand nach der anderen angingen.
Irgendwie hatte Jack es immer geschafft, genauso viel Zeit für Luca zu haben wie für seinen Neffen Joshua. Die beiden Jungen waren nie Konkurrenten gewesen. Vielmehr war ihre Freundschaft über die Jahre immer tiefer geworden. Obwohl sie sich selbst nicht als Brüder betrachteten, wirkten sie auf alle anderen so. Sie waren unzertrennlich. In der Schule waren sie in dieselben Kämpfe verwickelt, und als Teenager interessierten sie sich für dieselben Mädchen. Dennoch hatte es zwischen ihnen nie die Sorte Rivalität gegeben, die häufig zwischen Brüdern herrscht. Selbst als Jack seine alte Bergsteigerausrüstung Luca vermacht hatte, mit lauter teuren Expressschlingen und Camalots, hatte Joshua sich nicht beschwert. Klettern war Lucas große Leidenschaft. Das hatte Joshua von Kindheit an neidlos anerkannt.
Luca fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und wischte sich die letzten Regentropfen ab. Seit Jahren hatte er nicht mit Joshua gesprochen, aber er erinnerte sich gut an ihr letztes, von Störgeräuschen überlagertes Telefonat. Joshua war in Lahore und wollte gerade mit einem pakistanischen Hilfskonvoi in den Hindukusch. Luca wusste noch, wie aufgeregt Joshua damals klang. Es war sein erster Einsatz für
Ärzte ohne Grenzen
.
Luca sah zu René auf. «Weiß Jack, ob Joshua überhaupt noch lebt?»
«Einige persönliche Gegenstände von ihm wurden aus einem Fluss gefischt. Ich weiß nicht, worum es sich im Einzelnen gehandelt hat, aber Jack geht davon aus, dass er noch lebt.» Er unterbrach sich, ehe er sagte: «Tut mir leid, Luca. Jack sagt, dass ihr euch ziemlich nahestandet.»
Luca nickte und richtete den Blick wieder aufs Feuer. «Ja, wir sind zusammen aufgewachsen, gingen auf dieselbe Schule und so weiter, aber als ich mit den Expeditionen anfing, haben wir uns aus den Augen verloren. Der Unterschied zwischen uns war, dass Josh die Welt retten und ich sie erobern wollte.»
Es klang so verbittert, dass René sich vorbeugte und Luca aufmerksam ansah. «Weiß der Teufel, was passiert ist», sagte er. «Auf jeden Fall wird deine Hilfe gebraucht. Zuletzt wurde Joshua im Osten Kongos gesehen, in der Nähe eines kleinen Dreckskaffs namens Goma. Nach allem, was man so hört, ist es ein elendes Nest, in dem Schmuggler und Waffenschieber das Sagen haben.» Er streckte die Hand aus und gab Luca einen aufmunternden Klaps aufs Knie. «Genau deine Kragenweite.»
Luca sah ihn irritiert an. «Was soll das heißen?»
«Bist du nicht nur nass, sondern auch taub? Wir sprechen von der Bergregion Kongos, lauter Vulkane und Steilhänge. Kein Mensch traut sich dahin, weil das Gelände völlig unwegsam ist. Aber du bist einer der besten Bergsteiger der Welt. Da rumzukraxeln ist ein Kinderspiel für dich.»
Abwehrend hob Luca die Hand. «Tut mir leid, René, aber ich
kraxle
nicht mehr. Ihr müsst euch jemand anders suchen.»
«Herr im Himmel, Luca! Glaubst du, ich hätte meinen Arsch über den halben Himalaja bewegt, wenn es einen anderen gäbe? Weißt du eigentlich, wie lange ich gebraucht habe, um dich zu finden?»
«Tut mir leid», wiederholte Luca und mied den Blick des anderen. «Tut mir wirklich leid, aber ich habe hier zu tun.»
«Zu tun? Das hier ist doch keine Arbeit für dich! Oder bist du der neue Sisyphos?» Erregt schnippte René den Zigarettenstummel ins Feuer. Dann beruhigte er sich und fuhr in sanfterem Ton fort: «Jetzt
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