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Der Weg ins Dunkel

Der Weg ins Dunkel

Titel: Der Weg ins Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Woodhead
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betörende Blau geschimmert hatte, war nur noch dumpfes Grün zu sehen.
    «Sie bleiben stets in Bodennähe, wenn sie durch den Wald fliegen», erklärte er und betrachtete die Falter. «Die unterschiedlichen Farben ihrer Flügelseiten erwecken den Eindruck, als würden sie mit jedem Flügelschlag verschwinden und dann an einer anderen Stelle wieder auftauchen, und bei geschlossenen Flügeln sind sie im Wald perfekt getarnt. So schützen sie sich davor, gefressen zu werden.»
    «Tatsächlich?»
    «Tatsächlich.»
    Mit der linken Hand hob Jian die Glaskugel vorsichtig an, mit der rechten fuhr er darunter und bewegte sie langsam auf einen Falter zu.
    «Doch sobald man ihre Flügel berührt, werden sie flugunfähig. Der natürliche Ölfilm der menschlichen Haut zerstört die mikroskopisch kleinen Schuppen, die ihren Flügeln diese wunderbare Farbe geben, und sie fallen ab. Die Flügel sind so perfekt ausbalanciert, dass schon der Verlust weniger Schuppen fatale Folgen hat», erklärte Jian.
    Während er sprach, verengten sich seine Augen, und er steckte die Zungenspitze heraus. Der Schmetterling, der seiner Hand am nächsten war, kroch ein Stückchen von seiner Hand weg, blieb dann aber wieder stehen. Plötzlich schnellte Jians Hand zielsicher vor und packte den eigentlichen Körper des Falters mit Daumen und Zeigefinger. Das Tier erstarrte und öffnete die Flügel, aber sie zitterten nur noch reflexartig.
    «Man darf nur das äußere Skelett brechen, auf keinen Fall den Brustkorb», sagte Jian so leise, dass Xie ihn kaum hören konnte. «Sonst würden die Muskeln erschlaffen, mit denen die Flügel aufgespannt werden.»
    Xie hörte Jians erregten Atem. Sein sonst ausdrucksloses Gesicht begann regelrecht zu glühen, während der Schmetterling langsam starb.
    «Wäre es nicht einfacher, ein Tötungsglas zu benutzen, in dem sie ersticken?», fragte Xie. «Ich dachte, so wird es normalerweise gemacht.»
    «Ethylacetat ist etwas für Anfänger», erwiderte Jian, ohne aufzusehen. «Wenn man es auf meine Weise macht, hat man mehr davon.»
    Er holte den toten Falter aus der Kugel und bewegte ihn mit äußerster Sorgfalt auf einen offenen Bilderrahmen zu, der neben der Glaskugel auf dem Schreibtisch lag. Der zoologische Name des Falters und seine Artzugehörigkeit waren fein säuberlich unter die noch freie Fläche des Exponats geschrieben. Bevor Jian den Falter in den Rahmen legte, sah er ihn sich genauer an. Nach einer Weile hob er den Blick.
    «Schönheit ist so vergänglich», sagte er. «Sie existiert nur für einen Augenblick, einen kurzen Augenblick. Deswegen lässt sie sich so schwer einfangen.»
    Xie machte ein nachdenkliches Gesicht. «Muss man sie denn einfangen?»
    «Aber natürlich!», sagte Jian so laut, als fühlte er sich persönlich beleidigt. «Wie sollte man sie sonst festhalten?»
    Xie sagte nichts. Um sich nicht anmerken zu lassen, wie perplex er war, blickte er zu den Hunderten von Rahmen an den Wänden auf und fragte sich, wie viele Schmetterlinge dafür wohl ihr Leben gelassen hatten. Was immer für ein Mensch der General sein mochte, ein typischer Soldat war er jedenfalls nicht.
    Schon seit Jahren fiel verschiedenen Gildenmitgliedern auf, dass Jian sich «merkwürdig» benahm. Nun war man übereingekommen, dass Xie herausfinden sollte, was dahintersteckte und ob seine Charaktereigenschaften das Goma-Projekt in irgendeiner Weise gefährden könnten. Seither hatte Xie alle diesbezüglichen Berichte und Protokolle gelesen, aber schon nach den ersten Sekunden ihrer ersten Begegnung wusste er, dass alles bisher Zusammengetragene zu kurz griff. Jian schien ein Mann mit vielen Facetten zu sein, und solche Menschen hielten sich gemeinhin nicht an Regeln.
    Xie wollte gerade etwas sagen, um das Schweigen zu beenden, als Jian aufstand und ihn mit einer Handbewegung aufforderte, ihm zu folgen. Dann führte er Xie durch einen Korridor auf eine großzügige Veranda, von der man die nördlichen Vororte Beijings überblickte. Richtung Innenstadt wurden die Häuser immer höher, bis sich in der Ferne regelrechte Wolkenkratzer erhoben. Auf einer Seite der Veranda stand ein gedeckter Tisch mit einer Weinflasche in einem Kühler.
    Kaum hatten sich die Männer gesetzt, näherten sich geräuschlos zwei Diener, servierten delikate Soufflés und schenkten Wein in die bereitstehenden Gläser.
    Unsicher betrachtete Xie die zahlreichen Besteckteile und beschloss abzuwarten, wann und wie Jian sie benutzen würde.
    «Was genau will

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