Der Weg ins Dunkel
sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal zum Tisch um.
«Was war noch einmal der Name der Schmetterlinge?», fragte er.
«Blaue Morphofalter.»
«Blaue Morphofalter, richtig.» Xie lächelte. Dann zeigte er mit dem Finger auf Jian. «Lepidopterologie», sagte er triumphierend. Sichtlich zufrieden mit sich verließ er die Veranda, gefolgt von einem Bediensteten.
Jian rührte sich nicht, bis er die schwere Haustür zuschlagen hörte. Dann griff er in seine Hosentasche, holte ein Plastikfläschchen verschreibungspflichtiger Schmerztabletten heraus und öffnete es. Er nahm sein Weinglas, warf sich sechs der zylindrischen blauen Tabletten in den Mund und spülte sie mit dem Wein hinunter. Anschließend massierte er sich die Schläfen. Obwohl er inzwischen die dreifache Dosis nahm, hatte er immer noch Kopfschmerzen, und zwar so heftig, dass er das Gefühl hatte, ihm werde der Schädel gespalten.
Es musste der Stress sein. Aber er brauchte nur noch durchzuhalten, bis er das Geld außer Landes geschafft hatte. Wenige Wochen darauf würden die Aktienkurse da sein, wo er sie haben wollte.
Jian dachte darüber nach, was Xie gesagt hatte. Warum hatte er nach dem nächsten Satellitenstart gefragt? Bestimmt hatte es nichts zu bedeuten. Wie hätte die Gilde auch ahnen sollen, was er vorhatte? Der zwanzigste Start … Es war immer nur um diesen zwanzigsten Start gegangen.
Jian versuchte sich das Gespräch mit Xie in allen Einzelheiten in Erinnerung zu rufen, seine Absichten, seinen Tonfall … Doch die Kopfschmerzen beeinträchtigten sein Denkvermögen. Sie waren nahezu unerträglich.
Er trank noch einen Schluck Wein und schloss dann die Augen. Natürlich hatte es doch etwas zu bedeuten, dass Xie nach dem nächsten Start gefragt hatte. Es gab keine Zufälle. Die Gilde musste ihm auf die Schliche gekommen sein.
Doch die Vorbereitungen für den Start liefen auf Hochtouren, eine Verzögerung würde nur noch mehr Verdacht erwecken. Jians Mund wurde ganz trocken, und ein anderes Gefühl gewann die Oberhand über die Schmerzen: Angst. Wenn die Gilde herausfand, was er vorhatte, würden die dreihundert einflussreichsten Familien Chinas nicht eher ruhen, bis sie ihn zur Strecke gebracht hätten.
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Kapitel 10
Zwei Motorräder umkurvten die Schlaglöcher der Hauptstraße von Goma. Obwohl die Fahrer das Verkehrschaos gewohnt waren, kamen sie nur langsam voran. Im Schritttempo überholten sie einen Konvoi von Geländewagen, die hupend auf der Straße standen, weil irgendwo weiter vorne die Radachse eines klapprigen Lieferwagens gebrochen war, der nun beide Fahrbahnen blockierte. Der Fahrer war schon ausgestiegen und gestikulierte wild in die Menge, die sich schnell ansammelte. Er schüttelte die Faust und fluchte in allen Sprachen, die er kannte, während die Leute begehrliche Blicke auf die Getreidesäcke auf der Ladefläche seines Lieferwagens warfen.
Luca Matthews saß auf dem Rücksitz des zweiten Motorrads und hielt sich an Emmanuel, dem Fahrer, fest, als sie wieder schneller vorankamen. Sein blondes Haar flatterte im Fahrtwind, als er sich vorbeugte und Emmanuel über die Schulter sah, um vorgewarnt zu sein, wann das nächste Schlagloch kam.
Bei seiner Abreise aus Nepal hatte er sich den Bart abrasiert. Er trug ein sauberes weißes T-Shirt und lange dunkelgrüne Shorts – alles in allem eine gepflegte Erscheinung. Sein Gesicht war noch tief gebräunt, aber seine Arme und Beine waren heute zum ersten Mal der Sonne ausgesetzt und glänzten wie Alabaster. Die Blässe akzentuierte seine drahtigen Muskeln, und er wirkte fit und voller Energie. Trotzdem waren seine hellen blauen Augen immer noch leblos. Nur als er mit René darüber gestritten hatte, ob und wie er Joshua finden könnte, hatte ein Funken Leben darin gesteckt.
Die Reise in den Kongo hatte über eine Woche gedauert, und die meiste Zeit hatten sie sich mit verbeulten Autos und klapprigen Flugzeugen fortbewegt. Die ganze Zeit über hatte Luca kaum etwas gesagt und war in Gedanken versunken. Nur wenn Joshuas Name fiel, erwachte er aus seiner Trance, wurde lebhaft und manchmal sogar emotional. Stundenlang konnte er über Joshua reden, als gäbe es für ihn nichts Wichtigeres auf der Welt. Danach verfiel er aber wieder übergangslos in Schweigen. Mit seinem widersprüchlichen Verhalten mutete er René einiges zu, und dessen anfängliche Zweifel, ob Luca dieser Aufgabe gewachsen war, wurden mit jeder Stunde, die sie zusammen verbrachten,
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