Der Weg ins Dunkel
leicht man durch bloße Verdächtigungen ganze Existenzen vernichten konnte, und diesen Fehler wollte er nicht noch einmal machen.
Genauso wenig war er bereit, das gesamte Goma-Projekt in dieser entscheidenden Phase zu gefährden, nur weil Xie einen bestimmten Verdacht hegte – wie begründet dieser auch immer sein mochte. Zu viel stand auf dem Spiel, um Jian jetzt mit diesem Verdacht zu konfrontieren. Sollte er sich wirklich als schuldig erweisen, konnte man sich immer noch darum kümmern, wenn Gras über die Sache gewachsen war und drastische Maßnahmen keinen Staub mehr aufwirbeln würden.
«Andererseits könnte Jian unschuldig sein», sagte Kai schließlich. «Und jemand anders ist für den Absturz verantwortlich.»
Xie verbeugte sich. «Selbstverständlich, mein Herr.»
Kai schaute in den Saal, wo der Wirt eine Rampe an das Podest legte, auf dem gleich die Festreden gehalten werden sollten. Er wurde erwartet.
«Die Zerstörung des Satelliten ist eine peinliche Angelegenheit, und ich werde Jian für den Gesichtsverlust zur Rechenschaft ziehen, den ich vor den anderen Familien erlitten habe. Aber solange Sie mir keine unwiderlegbaren Beweise bringen, lassen wir Jian ungeschoren.»
«Ja, mein Herr.»
Kai schob den Anzugärmel zurück und sah auf seine Armbanduhr. Ganz gegen seinen Willen spürte er, wie sein Puls sich beschleunigte. In weniger als zwei Stunden würde die Sache publik gemacht werden. ChinaCell würde die Produktion von neuartigen Satellitentelefonen in Presseerklärungen und Interviews bekannt geben, überall auf der Welt. Das Medienecho würde überwältigend sein, und die großen Speicherhäuser in Guangdong, in denen Millionen vorproduzierter Telefone und Laptops lagerten, würden sich in null Komma nichts leeren. Fast zwei Drittel aller Fabriken in Shenzhen waren zu diesem Zweck umgerüstet worden. Nie zuvor hatte Chinas Äquivalent zu Silicon Valley eine derartige Monopolstellung gehabt.
Ein Großteil der neuen Geräte hatte die Speicherhäuser bereits verlassen und war mit einer ganzen Flotte von Containerschiffen auf dem Weg nach Europa und Amerika. In drei Tagen würden sie dort ankommen. Dann würde sich die Telekommunikation weltweit und für immer verändern, und die Verkaufserlöse würden die Gilde unsagbar reich machen. Es war riskant gewesen, so hohe Investitionen von allen Familien zu verlangen, aber nun stand das Goma-Projekt unmittelbar vor der Vollendung, und bislang war alles gut gegangen. Daran durfte sich jetzt nichts ändern.
«Soviel ich weiß, will der General in den Kongo fliegen, um die letzte Zahlung persönlich zu überwachen», sagte Kai.
«Ganz richtig, mein Herr. Heute Abend startet er nach Goma, um dort die letzte Überweisung zu veranlassen.»
Kai hob den Kopf und sah Xie durch seine dicken Brillengläser an. «Es ist eine enorme Summe, über die Jian nicht ohne Zeugen verfügen sollte. Begleiten Sie ihn und passen Sie auf, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Ich möchte, dass Sie ihn mit Argusaugen bewachen, Xie!»
«Ihn begleiten? In den Kongo?» Xie war völlig perplex.
Der alte Mann antwortete nicht, sondern warf nur den Kopf zur Seite, um anzudeuten, dass Xie aus dem Weg gehen sollte. Dann rollte er in den Festsaal zurück. Die Gäste erhoben sich von ihren Stühlen und applaudierten, als Kai auf das Rednerpodest zurollte.
Xie trat von einem Fuß auf den anderen. «Der Kongo», murmelte er. Er war noch nie in Afrika gewesen, und nun sollte er gleich in eine der gefährlichsten Regionen des Kontinents, um einen General im Zaum zu halten, von dem er zu wissen glaubte, dass er doppeltes Spiel trieb.
Er blickte in den Saal, wo die Elite der Stadt versammelt war. Die Frauen trugen spektakuläre Kleider, die Tische waren traditionell eingedeckt, teurer Schmuck war zu sehen, und überall wurde höflicher Smalltalk gemacht.
Mit einem einzigen Satz hatte Kai Xies Leben auf den Kopf gestellt. In wenigen Stunden würde er aus einem Flugzeug steigen und das schwarze Herz Afrikas betreten.
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Kapitel 21
«Luca!»
Bear beugte sich über ihn und packte ihn am T-Shirt. Jedes Mal, wenn sie seinen Namen rief, zog sie so stark daran, dass sich sein Kopf hob, bis er ihren fast berührte. Wenn sie ihn wieder auf die Erde legte, traktierte sie ihn so heftig mit Ohrfeigen, dass ihr die Hand weh tat.
«Luca, wach auf!»
Er stöhnte und blinzelte, bevor er die Augen ganz öffnete. Alles, was er sehen konnte, war Bear. Sie beugte sich über
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