Der Weg ins Dunkel
durch seine dicke Brille beobachtete. Sie war wunderschön, und ihr rotes Seidenkleid zeugte von Sinn für Stil und Tradition. Selbstsicher plauderte sie mit den Gästen, während Qingshan schüchtern neben ihr stand, unsicher nickte und mit kaum jemandem Blickkontakt aufnahm. Auch bei der Trauungszeremonie hatte er überfordert gewirkt.
Eine Schar von Kais Enkelinnen folgten Braut und Bräutigam, der Größe nach sortiert, alle in identischen Seidenkleidern. Kai lächelte gerührt. Seine Enkelkinder waren seine einzige Schwäche. Im Alter von fünfundsiebzig und seiner Gehfähigkeit beraubt, hatte er sich darauf besonnen, was ihm im Leben noch wichtig war. Seither legte er Wert darauf, jeden Tag etwas Zeit mit seinen Enkeln zu verbringen, zwar nur fünf Minuten, aber das reichte.
Als Qingshan erleichtert Platz nahm, kam Li Ling zu Kai an den Tisch, verbeugte sich vor ihm und schenkte ihm eine Tasse Tee ein. Ihre fließenden Bewegungen zeigten, dass sie mit der Kunst des Teeservierens vertraut war, und dass sie den Blick gesenkt hielt, zeugte von Respekt.
Kai nahm den Tee entgegen, und damit gehörte die junge Frau nun offiziell zu seiner Familie. Als er den ersten Schluck trank, sah er am Eingang des gut gefüllten Saals einen Mann an einer Holzsäule lehnen. Seine informelle Kleidung zeigte, dass er nicht zur Hochzeitsgesellschaft gehörte. Außerdem sah er aus, als hätte er seit einer Woche nicht geschlafen. Kai kannte Xies Hundeblick nur zu gut. Mit einem leichten Kopfnicken erlaubte er ihm, näher zu treten.
Diskret bahnte sich Xie einen Weg durch die festlich gekleideten Gäste und blieb vor einem Nebenraum unweit von Kais Platz stehen, bis Kai jemandem ein Zeichen gab, dass er in den Nebenraum geschoben werden wollte.
«Ich gratuliere Ihnen zur Hochzeit Ihres Sohnes», sagte Xie, als sie ungestört waren, verbeugte sich tief und überreichte Kai einen kleinen roten Umschlag.
Kai ließ es sich nicht anmerken, aber er war beeindruckt. Junge Leute vernachlässigten die alten Sitten nur allzu oft und waren stets in Hektik. Nicht so Xie. Deswegen hatte er ihn zu seiner rechten Hand gemacht. Jetzt zeigte sich, dass er sogar mit den traditionellen Hochzeitsritualen vertraut war und sie befolgte.
«Sie sagten, Sie hätten Unstimmigkeiten entdeckt?», kam Kai direkt zur Sache.
Xie nickte, ohne Kai anzusehen. Er war sich ihres Größenunterschieds bewusst, und normalerweise hielt er respektvoll Abstand zu Kai, damit es nicht allzu sehr auffiel, aber das war in dem engen Nebenraum des Teehauses nicht möglich. Auch als Kai noch nicht an den Rollstuhl gefesselt war, war er nicht groß gewesen, aber inzwischen schien er regelrecht geschrumpft zu sein. Mit müden, schweren Lidern sah er zu Xie auf.
Xie hüstelte. «Wir haben uns die Daten angesehen, und es hat ganz den Anschein, als befände sich der Satellit als solcher nicht unter den Wrackteilen. Das Verzeichnis der Untersuchungskommission ist eindeutig manipuliert.»
Kai sog hörbar die Luft ein. «Ist General Jian schon informiert?»
«Noch nicht, mein Herr. Ich hielt es für besser, zuerst mit Ihnen zu sprechen.» Xie machte eine kleine Pause. «Der General selbst hat die Unglücksursache definiert, kein Techniker, wie wir irrtümlich annahmen.»
«Aber warum?»
«Das wissen wir noch nicht, aber es verdichten sich die Hinweise, dass gar kein Satellit an Bord war.»
Nachdenklich kniff Kai die Augen zusammen. «Wenn Jian weniger Satelliten bauen ließ als vorgesehen, könnte er versucht haben, es zu vertuschen, indem er den Absturz durch Sabotage herbeiführte. In dem Fall müsste er viel Geld übrig behalten und in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Gibt es irgendwelche Hinweise darauf?»
Xie schüttelte den Kopf. «Seine Konten weisen keine ungewöhnlichen Transaktionen auf, genauso wenig wie die seiner Mitarbeiter. Wir haben uns intensiv mit dem Budget beschäftigt, konnten aber keine Unregelmäßigkeiten feststellen. Falls der General Geld außer Landes schafft, ist er extrem vorsichtig.»
«Hat seine Beschattung Ergebnisse gezeitigt?»
«Nein, mein Herr. Bestimmt hat Jian damit gerechnet, überwacht zu werden. Auf seinem Flug nach Europa hat er jedoch einen Zwischenstopp im Libanon gemacht. Wir sind noch dabei herauszufinden, warum.»
Unschlüssig saß Kai da. Es fiel ihm schwer, Menschen zu verurteilen, dafür erinnerte er sich noch zu gut an die blutige Kulturrevolution und das Denunziantentum unter dem Vorsitzenden Mao. Er wusste, wie
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