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Der Weg ins Dunkel

Der Weg ins Dunkel

Titel: Der Weg ins Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Woodhead
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ignorieren und zwang sich, die letzten Bilder von Abasi und Lanso aus ihrem Gedächtnis zu tilgen. Sie mussten jetzt pragmatisch sein und durften sich nicht mit Gefühlen belasten. Bear schätzte, dass sie einen Vorsprung von vielleicht zwei Stunden vor der LRA hatten, denn der Trupp musste erst wieder durch das Bachbett absteigen und den Inselberg umrunden. Die Hubschrauber hatten die Suche offenbar aufgegeben, entweder weil es ein aussichtsloses Unterfangen war, oder weil sie nicht genug Treibstoff hatten und erst auf der Militärbasis nachtanken mussten. So oder so war ihr Vorsprung knapp, und sie mussten ihn nutzen.
    Einige Minuten darauf dünnte sich das Unterholz aus, und das Gelände stieg leicht an.
    «Sie waren doch noch Kinder», sagte Luca und wurde immer langsamer. «Was für Menschen …»
    «Hör auf!», schnitt Bear ihm das Wort ab, drehte sich um und versetzte ihm einen Stoß. «Du musst aufhören, daran zu denken!»
    Luca starrte sie verstört an.
    «Sie sind tot», sagte Bear. «Verstehst du? Tot! Wir dagegen haben noch eine Chance. Deswegen müssen wir jetzt weiter.»
    «Kann ich nicht mal einen Moment …»
    «Nein, kannst du nicht!», schrie sie und versetzte ihm erneut einen Stoß, dieses Mal so heftig, dass er nach hinten taumelte. «Was ist mit dir los, Luca? Kapierst du nicht, worum es jetzt geht? Wir sind hier nicht in der westlichen Zivilisation, wo alle rumjammern: ‹Es tut mir ja so leid … Ach, was bin ich traurig!› Nix da! Das hier ist Afrika. Hier interessiert sich niemand für deine Gefühle.»
    Luca war zu schockiert, um antworten zu können. Bear drehte sich wieder um und strich sich so ungestüm das Haar aus dem Gesicht, dass sich einige Strähnen zwischen ihren Fingern verfingen. Dabei sprach sie weiter. «Millionen sind auf grausame Art im Kongo ums Leben gekommen. Millionen! Und kein Mensch regt sich darüber auf. Warum sollten wir da eine Ausnahme machen?»
    Mit finsterer Miene starrte Luca sie an. «Weil es das Einzige ist, was uns von den anderen unterscheidet», sagte er. «Wenn du denkst, ich hätte noch keinen Toten gesehen, täuschst du dich. Ich bin schließlich nicht als Tourist hier.»
    «Doch!» Bear drehte sich wieder zu ihm um. «Genau das bist du hier draußen: ein Tourist. Du hast keinen Schimmer, was hier Sache ist.»
    Lucas Blick wurde hart. «Aber du weißt alles über den Tod, weil du Tote gesehen hast? Bilde dir bloß nichts darauf ein! Und vor allem: Mach dir nichts vor! Man geht nicht einfach zur Tagesordnung über. Das funktioniert nicht. Die Gesichter gehen dir nicht aus dem Kopf. Sie starren dich mit ihren toten Augen und offenen Mündern an …»
    Er sprach nicht weiter. Er sah die Lawine wieder vor sich, die Gesichter der Männer, die durch die Wand aus Eis und Schnee taumelten und seinetwegen gestorben waren.
    Nach einer Weile sagte er: «Was ist dein Problem? Hast du einen Krieg zu viel erlebt, um dich noch von ein paar toten Kindern erschüttern zu lassen?»
    «Du kannst mich mal», schnappte Bear und verschränkte die Arme vor der Brust. «Du weißt nichts von mir.»
    Die Wunde an ihrer Schulter war wieder aufgerissen und blutete auf ihr inzwischen völlig verdrecktes T-Shirt, aber sie achtete nicht darauf.
    «Ich will überleben», fuhr sie fort. «Nicht mehr und nicht weniger. Für dich bin ich nicht verantwortlich, genauso wenig wie für die Pygmäen oder sonst jemanden.»
    «Genau. Das hast du ja von Anfang an gesagt. Gut zu wissen, was von dir zu erwarten ist.»
    Wütend starrten sie einander an.
    Dann sah Bear wieder auf die Uhr. Ohne noch ein Wort zu sagen, drehte sie sich um und rannte los. Luca gab ihr ein paar Schritte Vorsprung, dann folgte er ihr.
     
    Gegen Abend hörten sie das erste Donnergrollen. Der Regen ließ nicht lange auf sich warten. Dicke Tropfen prasselten auf das Blätterdach hoch über ihren Köpfen, ehe sie durch das Dickicht zu Boden fielen. Je dunkler es wurde, desto heftiger regnete es. Die breiten Blätter der riesigen Bäume begannen sich unter dem Gewicht des Wassers zu biegen und ließen es auf den Boden klatschen, der sich flugs in eine Schlammwüste verwandelte. Sie versanken mit ihren Lederstiefeln darin, und an den tiefsten Stellen reichte ihnen der Schlamm sogar bis an die Knie.
    Seit sie sich wieder in Bewegung gesetzt hatten, war kein weiteres Wort zwischen ihnen gefallen. Wenn sie an Bäumen vorbeikamen, deren Zweige Wasser führten, waren sie kurz stehen geblieben, um zu trinken, aber sie hatten

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