Der Weg ins Dunkel
zu finanzieren, überstieg ihre Möglichkeiten.
Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel, dass jemand den Gebirgspfad heraufkam. Es war ein Mann, der angesichts seines schweren Gepäcks erstaunlich schnell vorankam. Er ging nicht, er rannte fast.
Kurz darauf erreichte Luca Matthews den Grat. Er blieb stehen und blickte sich unter den Sherpas und Bergsteigern um.
Überrascht sah Sally ihn an. Sein schulterlanges, ungepflegtes Haar hatte er mit einem braunen Lumpen aus der Stirn gebunden. Sein Gesicht war tief gebräunt, und seine hohlen Wangen verrieten, dass er trotz der großen Anstrengung, die hinter ihm lag, schon länger zu wenig aß. Seine blonden Barthaare waren unterschiedlich lang, weil er sich offenbar seit Tagen ohne Spiegel rasierte. Als er die Richtung änderte und auf Sally zukam, konnte sie seine hellen blauen Augen sehen. Sie starrten blicklos in die Ferne, als sei irgendwo auf den endlosen Himalajapfaden jegliches Leben in ihnen erloschen.
«Hi», sagte sie, und hinter ihr riefen alle
«Namaste!»
. Die Nepalesen standen mit aneinandergelegten Händen da – die traditionelle Begrüßung – und sahen Luca an.
Das plötzliche Stimmengewirr ließ Bob aufschauen, und seine Miene verfinsterte sich noch mehr, als er sah, dass Luca am Rande des Lagers sein Gepäck absetzte. Er streckte eine Hand aus, als wollte er Luca fernhalten, und statt ihn zu begrüßen, ballte er die Hand zur Faust.
Luca beugte sich über seinen Rucksack und kramte einen verbeulten Flachmann hervor. Er nahm einen großen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, ehe er den Alkohol an die Sherpas weiterreichte.
Bob bellte den Anführer der Träger an: «Gygme, was zum Teufel hat das zu bedeuten? Ein fremder Bergsteiger teilt unser Lager, ohne mich um Erlaubnis zu fragen?»
Gygme lächelte höflich. «Aber, Sir, er ist kein Bergsteiger. Er gehört zu meinen Trägern.»
Bob rümpfte die Nase, als hätte er etwas Unangenehmes gerochen. «Wie bitte?»
«Luca ist Träger, genau wie die anderen hier. Er arbeitet seit sechs Monaten für mich und hat sich bestens bewährt.»
«Aber er ist ein Weißer.» Bob zeigte auf Luca, als müsste er Gygme auf Lucas Hautfarbe aufmerksam machen.
«Das stimmt.» Gygmes Lächeln verblasste. «Aber bislang hat sich das nicht als Nachteil erwiesen.»
In den frühen Morgenstunden zog Sally den Reißverschluss ihres Zeltes auf und trat in den kalten Morgen hinaus. Das Gras war steif gefroren und knisterte unter ihren Schritten.
Sie ging an den anderen Zelten vorbei und blieb am Rande des Lagers stehen. Die Luft war so kalt, dass es in der Lunge brannte, wenn sie tief einatmete. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ den gewaltigen Himmel auf sich wirken. In der klaren Kälte wirkte er geradezu zerbrechlich. Langsam wandelte sich das Nachtschwarz zu einem dunklen Blau, während die östlichen Gipfel schon wie von einem Heiligenschein umstrahlt wurden.
Obwohl sie nur wenig geschlafen hatte und die Höhe ihr Kopfschmerzen bereitete, machte sich eine majestätische Ruhe in ihr breit. Der Himalaja war einfach spektakulär.
Sie wollte schon zu ihrem Zelt zurückgehen, als sie zu ihrer Rechten jemanden stöhnen hörte. Verwundert drehte sie sich in die Richtung und sah Luca praktisch vor seinem Zelt liegen. Der größte Teil seines Körpers lag auf dem steinharten Boden, und er war nur locker mit einer Wolldecke bedeckt. Seine Füße steckten in seinem Rucksack, sein Haar hatte ihm der Frost an die Schläfen geklebt.
Sally ging zu ihm und beugte sich zu ihm hinunter, um ihn bequemer zu betten, als ein Ruck durch seinen Körper ging. Erschrocken sah sie ihn an, aber seine Augen waren geschlossen. Nur seine Lider zuckten, als hätte er einen Krampfanfall.
Dann wurde ihr klar, dass er weder einen Anfall hatte noch vor Kälte zitterte, sondern träumte.
Wieder zuckte er zusammen und verzog das Gesicht, als hätte er große Schmerzen. Dann stöhnte er noch einmal, aber gleich darauf lag er ganz still und friedlich da.
Sally beobachtete ihn fasziniert, als sie plötzlich von hinten angesprochen wurde.
«Sie brauchen sich seinetwegen keine Sorgen zu machen, Miss Sally.»
Sie drehte sich um und sah Gygme vor seinem Zelt stehen. Mit ausgestreckten Armen verschaffte er sich Bewegung, um die vom Schlaf steifen Glieder in Schwung zu bringen.
«Er schläft oft schlecht. Manchmal ist es so schlimm, dass er uns alle wach hält. Aber er steht jeden Morgen auf und trägt seine Last wie
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