Der Weg ins Dunkel
Ecke des Zimmers. Luca ließ sich darauffallen und streckte die Beine aus, sodass seine Stiefel fast die Asche der Feuerstelle berührten. Er wischte sich die Haare aus dem Gesicht, und das Wasser, das sich darin angesammelt hatte, klatschte hinter ihm zu Boden.
Als sich seine Augen an die Dunkelheit und den Qualm gewöhnt hatten, sah er eine alte Frau, die mit einer schweren Teekanne in den Händen ins Zimmer kam, sie zusammen mit zwei Holzschalen auf einen niedrigen Hocker stellte und alles zusammen zu den Männern trug. Sie schenkte ihnen Tee ein und reichte jedem eine Schale. Als sie Luca anlächelte, entblößte sie ihre drei schwärzlichen Zähne.
«Dhanyabaad»
, sagte Luca und legte die Hände aneinander. Danke.
Geräuschvoll schlürfte er den heißen Tee und spürte, wie der Dampf ihm das Gesicht wärmte. Dann sah er René an.
Der beäugte seinen Tee misstrauisch, holte eine Halbliterflasche Brandy aus seiner Jackentasche und füllte beide Teeschalen bis zum Rand.
«Ich lebe seit zwölf Jahren im Himalaja, und soll ich dir was verraten?», sagte René.
Luca nickte. Dass Gespräche mit René eher einseitig waren, war er gewohnt.
«Lieber würde ich meine eigene Pisse trinken als diesen Tee aus Yakbutter. Egal, wie oft ich in die Berge gehe, schockiert mich dieses Zeug immer wieder. Da hilft nur eins: den ranzigen Geschmack mit Brandy übertünchen. Das Problem ist nur, dass der Brandy hier auch nicht viel besser schmeckt.»
Er hob seine Schale und prostete Luca zu, bevor er einen großen Schluck trank und die Lippen zurückzog, als der billige Fusel in seinem Mund brannte.
Luca trank ohne sichtliche Reaktion und wärmte sich die Finger an der Schale. René beobachtete ihn interessiert. Er konnte kaum fassen, wie sehr Luca sich verändert hatte.
Er hatte nicht nur stark abgenommen, sondern wirkte insgesamt verändert. Er war verschlossen, in sich gekehrt und machte den Eindruck, als bedrückte ihn etwas. Die Dorfbewohner hatten René schon erzählt, dass Luca die Schneegrenze nicht mehr überschritt und sich als Träger stets für die schwersten Lasten und die weitesten Wege zur Verfügung stellte. Offenbar hoffte er, mit den Strapazen, die er sich zumutete, ein Stück von seiner Schuld abzutragen – eine selbst auferlegte Strafe, die er mit Tausenden von Schritten durch den Himalaja ableistete.
René verglich den Mann, der da vor ihm saß, mit dem, der vor vielen Jahren sein Restaurant besucht hatte. Damals war Lucas Auftreten dominant gewesen, manchmal sogar arrogant, und mit einem überheblichen Grinsen hatte er von seinen halsbrecherischen Plänen gesprochen. Er war in die Gegend gekommen, um die erforderlichen Genehmigungen und Papiere für eine Expedition in eine der entlegensten Regionen Tibets einzuholen, und schon wenige Tage nach ihrer ersten Begegnung hatte René Kopf und Kragen riskiert, um ihm dabei zu helfen. Das war typisch für Luca: Seine Energie riss andere unwillkürlich mit.
Von diesem Luca war jedoch nichts mehr übrig. Vor René saß eine gequälte Seele. Er kam ihm vor wie ein Krebskranker, dem er dabei zusah, wie er von innen aufgefressen wurde.
René griff nach der nächsten Zigarette und zündete sie mit einem brennenden Scheit aus dem Feuer an. Die Hitze versengte die Haare auf seinem Handrücken, und er schrie leise auf, als sich der Gestank ausbreitete. Dann sog er an der Zigarette und sah wieder Luca an, dieses Mal aber ohne die Jovialität, die er bisher an den Tag gelegt hatte.
«Ich weiß, dass du eine schwere Zeit durchgemacht hast, Luca, aber du hättest wenigstens Jacks Briefe beantworten können. Immerhin ist es schon über drei Monate her.»
Luca sah vom Feuer auf. «Wovon redest du? Ich habe keine Briefe bekommen.»
René fuhr sich mit den Fingern durch den Bart. «Shit», sagte er leise und blies Rauch aus. «Deshalb also. Dann erfährst du es eben jetzt. Jack Milton versucht seit Monaten, mit dir Kontakt aufzunehmen. Als ihm das nicht gelang, hat er mich gebeten, nach dir zu suchen. Du weißt ja, wie ungern ich Lhasa verlasse und in die Berge gehe. Drei Tage bis zur Grenze und dann diese verfluchten Gebirgspfade …»
«Die Briefe, René», unterbrach Luca ihn und beugte sich gespannt vor. «Was will Jack von mir?»
«Die Briefe … also … nicht Jack steckt in Schwierigkeiten, sondern sein Neffe, Joshua. Vor sechs Monaten ist er irgendwo im tiefsten Kongo verschollen. Ein schlimmes Land. Er hat für
Ärzte ohne Grenzen
gearbeitet, als der Truck,
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