Der Weg ins Dunkel
alle anderen. Kommen Sie, ich mache uns einen Tee. Luca geht es gut.»
Sally wischte einen imaginären Fleck von ihrer Jacke und ging mit Gygme auf die Mitte des Lagers zu. Auch in den anderen Zelten regte sich jetzt Leben, nach und nach schälten sich die anderen Träger aus ihren Schlafsäcken, und bald drängten sie sich um die glimmenden Reste des Lagerfeuers.
Eine Stunde später war alles zusammengepackt, und die Bergsteiger hatten sich unter Bobs Leitung bereits auf den Weg gemacht. Die Sherpas folgten ihnen schwer bepackt über einen gewundenen Pfad, der sie an die Schneegrenze führen würde.
Im Laufe des Vormittags schoben sich Wolken vor die Sonne und verdeckten bald auch die Berggipfel. Aus den Tälern stieg dichter Nebel auf, beschleunigt von einem scharfen Wind, der Regen mitbrachte und die Kletterer bis auf die Knochen durchnässte.
Die Sherpas wickelten sich in dünne Plastikplanen und banden sie mit Seilen fest, aber das war ein dürftiger Schutz, und bald rann ihnen das Wasser an den Beinen herunter in ihre rissigen Schuhe. Trotzdem setzten sie ihren Weg ungerührt fort und ignorierten das Wetter.
Bald mündete der Pfad in den ersten Gletscher, der von Schneefeldern umgeben war. Weiter oben suchten die Bergsteiger an einer hohen Felswand Schutz vor Regen und Wind, die leuchtenden Jacken hochgeschlossen. Einer nach dem anderen schlossen die Sherpas zu ihnen auf.
«Hinter dem nächsten Grat errichten wir Lager eins», rief Bob ihnen zu.
«Sir –», begann Gygme und blinzelte gegen den Regen an.
«Okay, Leute, dann weiter!», schnitt Bob ihm das Wort ab und ging weiter.
Kurz vor der Felswand setzte Luca seine Last im Schnee ab, holte heraus, was ihm gehörte, und machte den Rucksack sorgfältig wieder zu.
Als Bob sich zufällig umdrehte, sah er, dass Luca kehrtmachte.
«Was zum Teufel soll das?», brüllte er und kam zurück.
Luca schnürte seine wenigen Habseligkeiten zu einem Bündel und antwortete nicht.
Gygme beobachtete ihn schweigend und steckte die Hände unter die Tragriemen seiner Last, um das Gewicht besser zu verteilen.
«Sir», begann er erneut. «Wir haben das bereits in Kathmandu besprochen. Ich habe Ihnen gesagt, dass einer meiner Träger die Schneegrenze nicht überquert. Deswegen wollte ich mehr Träger haben.»
«Was soll das heißen … er überquert die Schneegrenze nicht? Das hier ist eine Himalaja-Expedition, verflucht noch mal!» Bob streckte die Hand nach Gygme aus und berührte fast sein regenüberströmtes Gesicht. «Es geht um Geld, oder?»
Gygme setzte seine Last ab und wischte sich über die Stirn. Er sah Bob an und musste sich beherrschen, um nicht zurückzuschreien. «Nein, Sir. Um Geld geht es nicht. Luca überquert die Schneegrenze grundsätzlich nicht, und wir respektieren das. Ich habe schon alles mit meinen Leuten besprochen, wir teilen sein Gepäck unter uns auf.»
«Weißt du nicht mehr, dass Gygme uns das schon im Hotel gesagt hat, Bob?», mischte Sally sich ein. Sie hatte sich die Kapuze ihrer Goretex-Jacke so tief ins Gesicht gezogen, dass es kaum zu sehen war. «Du weißt doch … bei der Vorbesprechung.»
«Nichts weiß ich», sagte Bob und schüttelte den Kopf. «Ihr könnt mir nichts vormachen. Es geht um Geld. Es geht doch immer bloß um Geld.» Er griff in seine Jackentasche und holte eine versiegelte Plastiktüte heraus, in der sich zu einer dicken Stange zusammengerollte Rupienscheine befanden.
«Hey, du!», rief Bob in Lucas Richtung. «Ich zahle dich jetzt aus. Aber wenn du ein ganzer Kerl bist und weiter mitkommst, gebe ich dir jeden Tag was extra.»
«Das ist unfair gegenüber den anderen», flüsterte Sally.
«Kannst du nicht ein einziges Mal den Mund halten?», fuhr Bob sie an, ohne sich die Mühe zu machen, sie dabei anzusehen. Stattdessen sah er Luca an, der mit ausgestreckter Hand auf ihn zukam.
«Na, bitte! Sag ich’s doch!» Bob grinste und blätterte Rupienscheine in Lucas Hand. «Du heißt also Luca? Los, Mann, sag was! Ich weiß, dass du Englisch sprichst. Sonst hättest du nicht verstanden, dass ich dir mehr Geld angeboten habe.» Er versuchte, Lucas Gesicht unter der blonden Mähne zu erkennen.
Luca zählte das Geld ab. Eine lange Narbe zog sich bis zu seinem Handgelenk und war wegen der Kälte ganz rot angelaufen. Als er fertig war, nahm er sechs Scheine von dem Packen und gab sie Bob zurück. Dann drehte er sich um, ohne ein Wort zu sagen, und begann den Abstieg.
«Hey, was soll das?», protestierte Bob.
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