Der Weg ins Glueck
aufgeschrien. Ich war auch nicht glücklich oder überrascht. Ich fühlte einfach nichts. Ich war wie erstarrt, so wie damals, als ich erfuhr, dass Walter sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte. Ich hängte den Hörer ein und drehte mich um. Mutter stand in der Tür zu ihrem Zimmer. Sie trug ihren alten Rosenkimono und ihr Haar hing ihr in einem langen dicken Zopf den Rücken hinab. Ihre Augen schimmerten und sie sah aus wie ein junges Mädchen.
»Gibt es Nachricht von Jem?«, fragte sie.
Woher wusste sie das? Ich hatte am Telefon kein Wort gesagt außer ja - ja - ja. Sie sagt, sie hat auch keine Ahnung, woher sie das wusste, aber sie wusste es. Sie war wach und hörte das Klingeln und wusste, dass es wegen Jem war.
»Er lebt - er ist wohlauf - er ist in Holland«, sagte ich.
Mutter kam näher und sagte: »Ich muss versuchen deinen Vater zu erreichen, und es ihm sagen. Er ist in Upper Glen.«
Sie war ganz ruhig und still - das hätte ich von ihr nie erwartet. Aber mir selbst ging es nicht anders. Ich ging hin und weckte Gertrude und Susan auf und sagte es ihnen. Susan sagte als Erstes: »Gott sei Dank«, und als Zweites sagte sie: »Habe ich euch nicht gesagt, dass Monday es gewusst hat?« Und als Drittes sagte sie: »Ich gehe nach unten und mache eine Tasse Tee.« Und dann stolzierte sie in ihrem Nachthemd nach unten. Sie machte Tee und schenkte Mutter und Gertrude eine Tasse ein. Ich aber ging zurück in mein Zimmer, machte die Tür hinter mir zu und schloss sie ab, kniete am Fenster nieder und weinte - so wie Gertrude damals, als sie ihre große Neuigkeit erfuhr.
Ich glaube, ich weiß jetzt genau, wie ich mich am Tag der Auferstehung fühlen werde.
4. Oktober 1918
Heute ist Jems Brief gekommen. Er liegt erst seit sechs Stunden da und ist fast schon in Stücke gelesen. Die Postbotin hat allen in Gien davon erzählt und gleich kamen alle Leute herauf und wollten Genaueres wissen.
Jem hatte eine schlimme Verwundung am Oberschenkel und er wurde aufgegriffen und ins Gefängnis gesteckt. Er war im Fieberwahn und begriff überhaupt nicht, was mit ihm geschah und wo er war. Es hat Wochen gedauert, bis er wieder richtig bei Bewusstsein war und schreiben konnte. Und dann schrieb er, aber der Brief ist nie angekommen. Dabei wurde er keineswegs schlecht behandelt in seinem Lager, nur das Essen war dürftig. Alles, was er bekam, war ein bisschen Schwarzbrot und gekochte Rüben und hin und wieder ein wenig Suppe mit schwarzen Erbsen drin. Und wir haben früher dreimal am Tag eine üppige Mahlzeit gehabt! Er schrieb uns so oft wie möglich, aber er befürchtete schließlich, dass wir seine Briefe gar nicht bekamen, weil keine Antwort kam. Sobald er sich stark genug fühlte, versuchte er zu fliehen, aber er wurde geschnappt und zurückgebracht; einen Monat später unternahmen er und ein Kamerad einen neuen Versuch, und diesmal gelang es ihnen nach Holland zu fliehen.
Jem kann nicht so bald nach Hause kommen. Ganz so gut, wie es im Telegramm hieß, geht es ihm doch nicht; seine Wunde ist nicht ordentlich verheilt und er muss zur Weiterbehandlung in ein Krankenhaus nach England. Aber, so schreibt er, danach wird er wieder völlig gesund sein. Hauptsache, er ist in Sicherheit und wird irgendwann nach Hause zurückkehren! Gott sei Dank, da sieht die Welt gleich völlig anders aus! Heute habe ich auch einen Brief von Jim Anderson bekommen. Er hat eine Engländerin geheiratet und will nach seiner Entlassung sofort mit seiner Braut nach Kanada zurückkehren. Ich weiß nicht, ob ich darüber froh sein soll oder traurig. Das wird ganz allein davon abhängen, was für ein Mensch seine Frau ist. Außerdem kam noch ein weiterer Brief mit ziemlich mysteriösem Inhalt. Der Absender ist ein Rechtsanwalt aus Charlottetown. Ich soll ihn so bald wie möglich aufsuchen, in einer gewissen Angelegenheit, die mit dem Nachlass »der verstorbenen Mrs Matilda Pitman« zu tun hat.
Ich habe die Todesanzeige von Mrs Pitman - sie starb an Herzversagen - vor ein paar Wochen in der Enterprise gelesen. Ich frage mich, ob diese Vorladung irgendetwas mit Jims zu tun hat.
4. Oktober 1918
Heute früh bin ich in die Stadt gefahren und habe Mrs Pitmans Rechtsanwalt aufgesucht - einen kleinen, schmächtigen Mann, der von seiner verstorbenen Klientin mit solchem Respekt sprach, dass mir klar wurde, dass er ebenso unter ihrer Fuchtel gestanden hat wie Robert und Amelia. Er hatte kurz vor ihrem Tod ein neues Testament abgefasst. Es ging um
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