Der Weg Nach Tanelorn
sie aufgescheucht hatten. Sie wussten nicht, dass sie ihr geschütztes Leben Dorian Falkenmond verdankten, der, wie Graf Brass vor ihm, dafür sorgte, dass niemand die wildlebenden Tiere der Kamarg tötete. Und nur einige von ihnen durften gezähmt werden, um als Reittiere auf dem Land und, im Fall der Flamingos, in der Luft zu dienen. Zu diesem Zweck waren die Wachtürme der Kamarg ursprünglich errichtet worden, und deshalb nannte man die Männer, die von dort aus nach dem Rechten sahen, auch Hüter. Doch nun dienten sie sowohl zum Schutz der Bevölkerung der Kamarg als auch der Tiere. Sie achteten auf jede Bedrohung von außerhalb (ein Kamarganer würde gar nicht auf den Gedanken kommen, die Tiere, derengleichen es sonst nirgendwo auf der Welt gab, zu töten oder ihnen sonst ein Leid anzutun). Die einzigen Kreaturen, die gejagt werden durften, waren die Baragoons, die Marschbrabbler, Geschöpfe, die dereinst selbst Menschen gewesen waren, ehe sie durch Experimente in den Zauberlaboratorien des früheren, korrupten Lordhüters zu den grauenvollen Bestien gemacht wurden, die sie jetzt waren. Dieser Lordhüter wurde noch vor Graf Brass’ Zeit von seinen eigenen Hütern in Stücke gerissen. Inzwischen gab es jedoch höchstens noch zwei oder drei Baragoons in den Marschen, die sich den Jägern hatten entziehen können. Plumpe Kreaturen waren es, acht Fuß hoch, fünf Fuß breit und grün wie Galle. Sie bewegten sich schlitternd auf dem Bauch und richteten sich gewöhnlich nur auf, um über ein Opfer herzufallen und es mit den stahlharten Klauen zu zerreißen. Yisselda und Falkenmond achteten darauf, jenen Marschen fernzubleiben, in denen die Baragoons noch hausen sollten.
Falkenmond liebte die Kamarg mehr als das Land seiner Väter im fernen Germania. Ja, er hatte sogar seinem Titel und Erbrecht auf die Ländereien entsagt, die nun von einem vom Volk gewählten Rat regiert wurden – wie so viele europäische Länder, die ihre Herrscher verloren und sich ebenfalls nach dem Untergang des Dunklen Imperiums zu einer neuen Staatsform, der Republik, entschlossen hatten.
Doch so sehr Falkenmond von den Menschen der Kamarg geliebt und geachtet wurde, war ihm doch bewusst, dass er nicht das Ansehen des alten Grafen Brass genoss. Wenn sie Rat brauchten, suchten die Kamarganer Gräfin Yisselda so häufig auf wie ihn, und sie blickten voll Erwartung auf den kleinen Manfred, denn sie sahen in ihm so etwas wie die Wiedergeburt ihres geliebten alten Lordhüters.
Ein anderer hätte das sicher übel genommen, aber Falkenmond, der Graf Brass vielleicht noch mehr als sie geliebt hatte, nahm es hin, ohne sich gekränkt zu fühlen. Er hatte genug von Führerschaft und Heldentum. Er zog es vor, jetzt das Leben eines einfachen Landedelmanns zu führen. Die Leute sollten ihre eigenen Entscheidungen treffen, sich selbst regieren. Seine einzige Ambition war, seine Frau und seine Kinder glücklich zu sehen. Die Tage, da er die Geschichte gelenkt hatte, waren vorbei. Das einzige, was ihm geblieben war, um ihn an seinen Kampf gegen Granbretanien zu erinnern, war die seltsam geformte Narbe in der Mitte seiner Stirn, wo einst das schreckliche Schwarze Juwel, der Gehirnfresser, von Baron Kalan von Vitall eingepflanzt worden war – damals, vor vielen Jahren, als er gegen seinen Willen ausgesucht wurde, dem Dunklen Imperium gegen Graf Brass zu dienen.
Jetzt gab es das Schwarze Juwel nicht mehr, genauso wenig wie Baron Kalan, der nach der Schlacht von Londra Selbstmord begangen hatte. Er war ein genialer Wissenschaftler gewesen, aber vielleicht der verruchteste aller Lords Granbretaniens. Er hatte geglaubt, es nicht ertragen zu können, unter der neuen und seiner Ansicht nach weichlichen Herrschaft Königin Flanas zu leben, die die erbliche Nachfolge des Reichskönigs Huon übernommen hatte. Huon war von Baron Meliadus in einem verzweifelten Versuch, die Macht an sich zu reißen, ermordet worden.
Falkenmond fragte sich manchmal, was aus Baron Kalan geworden wäre, und auch aus Taragorm, dem Herrn des Palasts der Zeit – er war in einer Explosion von Kalans teuflischen Waffen während der Schlacht von Londra getötet worden –, wenn sie die Schlacht überlebt hätten. Hätte man sie in Königin Flanas Dienste übernommen und ihre Genialität benutzen können, um die Welt, die sie zerstören halfen, wiederaufzubauen? Vermutlich nicht, dachte er. Sie waren beide vom Wahnsinn gezeichnet gewesen. Die abartige, grausame Philosophie, die
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