Der Weg Nach Tanelorn
Granbretanien dazu geführt hatte, die ganze Welt zu bekriegen – und fast zu erobern! – hatte ihre Charaktere geformt.
Nach ihrem Ausflug durch die Marschen ritt die Familie gemächlich durch Aigues-Mortes, der befestigten Hauptstadt der Kamarg, und schließlich hoch zur Burg Brass, die auf einem Hügel direkt in der Mitte der Stadt stand. Sie war aus demselben weißen Stein erbaut wie der Großteil der Häuser von Aigues-Mortes, und obgleich die Burg eine Mischung verschiedenster architektonischer Stile war, strömte sie eine wohltuende Harmonie aus. Über die Jahrhunderte hinweg hatte es immer wieder Renovierungen gegeben, Anbauten waren dazugefügt worden, manche Flügel waren je nach Laune eines ihrer Besitzer niedergerissen und neuerbaut worden. Die meisten der Fenster waren aus kunstvoll bemaltem Glas, ihre Form dagegen war nicht einheitlich, es gab runde, ovale, quadratische, rechteckige. An den überraschendsten Stellen des Bauwerks erhoben sich Türme und Türmchen, rund und vieleckig, ja sogar minarettähnlich. Und Dorian Falkenmond hatte, wie es in seiner Heimat üblich war, viele Fahnenstangen anbringen lassen, von denen bunte Flaggen und Banner wehten, einschließlich der Standarten des Grafen Brass und der Herzoge von Köln. Steinerne Basilisken starrten schützend von den verschiedenen Dachebenen, und der Stein so manchen Giebels war von Künstlerhand in der Form des einen oder anderen kamarganischen Wildtiers gehauen – und so blickten einen von oben herab Stiere, Flamingos, Einhörner und Marschbären an.
Wie in Graf Brass’ Tagen erweckte die Burg den Eindruck von Kraft und Beschaulichkeit, ja Gemütlichkeit. Sie war nicht erbaut worden, um mit dem Geschmack oder der Macht ihrer Bewohner zu protzen. Sie war auch nicht als Bollwerk errichtet worden (obgleich sie sich als solches erwiesen hatte), noch waren bei ihren Renovierungen und Neuanbauten und ihrem Wiederaufbau ästhetische Überlegungen in Betracht gezogen worden. Sie war so gebaut worden, dass man sich darin wohl fühlen konnte und es an keiner Bequemlichkeit fehlte. Das war etwas, das beim Bau einer Burg wohl selten bedacht wurde. Auch die Terrassengärten rings um die Burgmauern trugen dazu bei, den Eindruck eines gemütlichen Heimes zu erhöhen. Hier in diesen Gärten wuchsen Nutz- und Zierpflanzen aller Arten, und sie versorgten nicht nur die Burgbewohner, sondern einen großen Teil der Stadt mit frischem Gemüse und Obst.
Nach ihrer Rückkehr in die Burg erwartete die Familie ein einfaches, aber geschmackvolles Mahl, das sie mit allen anwesenden Gefolgsleuten einnahm. Danach brachte Yisselda die Kinder ins Bett und erzählte ihnen eine Geschichte. Manchmal war es eine alte Legende über die Zeit vor dem Tragischen Jahrtausend, manchmal erfand sie selbst eine, und hin und wieder musste sie auf Manfreds und Yarmilas Drängen Dorian holen, damit er von einem oder mehreren seiner Abenteuer in fernen Ländern berichtete, als er dem Runenstab gedient hatte. Dann erzählte er ihnen, wie er den kleinen Oladahn kennen gelernt hatte, dessen Körper und Gesicht dicht mit pelzähnlichem rötlichen Haar bedeckt war und der behauptete, von den Bergriesen abzustammen. Er erzählte ihnen auch von Amarekh jenseits der großen See im Norden und von der magischen Stadt Dnark, wo er zum ersten Mal den Runenstab gesehen hatte. Zugegeben, Falkenmond musste diese Geschichte ein wenig mildern, denn die Wahrheit war finsterer und schrecklicher, als selbst die meisten Erwachsenen sie ertragen konnten. Am liebsten aber sprach er von seinen toten Freunden, ihrer Tapferkeit, ihrem Edelmut, und hielt so die Erinnerung an Graf Brass, Bowgentle, d’Averc und Oladahn lebendig, deren Taten in ganz Europa bereits Legende waren.
Wenn die Geschichten erzählt waren und die Kinder schliefen, setzten Yisselda und Dorian sich in die bequemen Sessel zu beiden Seiten des offenen Kamins, über dem Graf. Brass’ Messingrüstung neben seinem Breitschwert hing. Dann unterhielten sie sich miteinander oder lasen.
Hin und wieder kam ein Brief von Königin Flana, in dem sie erzählte, welche Fortschritte ihre Politik bisher erzielt hatte. Londra, die auf irre Weise überdachte Stadt, hatte sie fast ganz abreißen und dafür schöne, freie Häuser zu beiden Seiten der Thayme erbauen lassen, deren Wasser nicht länger rot von Blut gefärbt war. Das Tragen von Masken hatte sie abgeschafft und verboten. Nach einer Weile hatten die Menschen von Granbretanien sich auch daran
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