Der Weg nach Xanadu
Nachgeborenen
auseinanderstoben, »Southey war ein großzügiger Mensch mit ausgeprägtem
Verantwortungsgefühl, hat sich um alle Bedürftigen rührend gekümmert, nett von
ihm. Aber als Dichter war er — « — jetzt sah man ihm an, daß er um
Angemessenheit seines Urteils rang — » bestenfalls mittelmäßig.«
Ich atmete durch. War ich in
diesem Reservat der Coleridge-Verleugner doch noch auf einen Gerechten
gestoßen! Ließ mir aber, nachdem er mich ins Haus gebeten hatte,
sicherheitshalber doch seine Lebensgeschichte erzählen, bevor ich mich
offenbarte.
Kein Kollege also, gut so.
Mitch war Informatiker in Edinburgh, mit unzähmbarem Drang zur Poesie des
neunzehnten Jahrhunderts, vollen Geldspeichern, missionarischen Ambitionen und
erstaunlicher Geschmackssicherheit — auch beim Wein, wie ich anhand des Barbera
d’Asti unschwer erkennen konnte, den er mir in der Lounge seines Feriendomizils
aufdrängte, während wir gemeinsam seinen edlen Teppich unter Wasser setzten.
Meine eigene Vorstellungsrede hielt ich an der kurzen Leine; von den Träumen
erzählte ich nichts, ich war einfach ein Anglist aus Wien auf
Coleridge-Pilgerfahrt. Mitch war ganz selig vor soviel neigungsmäßiger
Deckungsgleichheit. Genauso stellte er sich das vor, Coleridge-Jünger aus aller
Welt sollten in den Sommermonaten in sein Haus kommen, von Ehrfurcht und
Dankbarkeit sollte Greta Hall durchweht werden, die Nachwelt noch würde ihn
würdigen dafür.
»Die Zimmer«, sagte ich
endlich, als ich den Zeitpunkt für günstig hielt, »sind noch immer — «
»Kaum verändert«, sagte Mitch.
»Vor allem die im ersten Stock. Das Schlafzimmer ist noch wie vor zweihundert
Jahren, den offenen Kamin im Arbeitszimmer hab ich gerade mit Holz gefüttert.
Es ist sein offener Kamin.«
Ich schluckte.
»Könnte ich«, sagte ich mit
Tremolo in der Stimme, »mir das Arbeitszimmer — «
»Mit dem größten Vergnügen«,
unterbrach er mich. Schon war er aufgestanden, jetzt ging alles ganz schnell.
Es konnte nur das Arbeitszimmer
sein. A Letter To —, Dejection, die Opiumdelirien, die Blutopfer
für die Große Göttin... »Ich bezweifle«, schreibt Coleridge an Godwin, »daß es
ein Zimmer in England gibt, das einen schöneren Blick auf Berge, Seen, Wälder
und Täler bietet als das, in dem ich gerade sitze.« Über dem Panorama von Seen
und Hügeln »verbinden sich Nebel, Wolken und Sonnenschein in endlosen
Kombinationen, als würden Himmel und Erde für immer miteinander sprechen.«
Auch in anderen Briefen und in
den Notebooks wird er nie müde, den Blick aus dem Fenster zu beschreiben — aber
auch das Zimmer selbst mit dem Kamin, den Regalen für Bücher und Tinkturen, dem
Schreibtisch. Oft geraten die Skizzen zu Stilisierungen des vereinsamten
schöpferischen Individuums in seiner Zelle: Hier haust der arme Poet, den
Naturgewalten ebenso hingegeben wie ausgeliefert. Das ständige Wechselspiel von
Licht und Schatten vor dem Fenster wird zum Spiegelbild persönlicher
Befindlichkeiten. Sonnenfluten auf den Hügelkuppen, Baumskelette im
Sturmgetöse: Euphorie und Verzweiflung.
»Greta Hall«, sagte mein
Gastgeber, als wir feierlich die Stufen hochstiegen, »war übrigens im frühen
achtzehnten Jahrhundert ein astronomisches Observatorium. Interessant, finden
Sie nicht?«
Und ob ich das fand. Ich fand
es sogar so interessant, daß mein Körper mitten auf der Treppe zum Stillstand
kam, weil ihm die Luft wegblieb. In meinem Kopf verband sich alles zu einem
großen Ganzen, das ich aber trotzdem nicht verstand. Anna, die Astronomie,
Asra, Greta Hall mit einem Coleridge-Verehrer als neuem Besitzer, die Zimmer im
ersten Stock unverändert nach zweihundert Jahren... Hier mußte der Schlüssel zu
allem zu finden sein, ich war mir ganz sicher. »Voilà«, sagte Mitch, es klang
ganz entzückend im schottischen Akzent, und hielt mir die Tür zum Arbeitszimmer
auf. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Holte tief Luft wie vor einem Tauchgang,
schickte ein Blitzgebet zur Großen Herrin des Zufalls und ging hinein.
Der offene Kamin spuckte Feuer.
Er befand sich an der rechten Seitenwand des Zimmers. Der Tür gegenüber das
Fenster. Die Möbel standen anders, natürlich. Keines der Möbelstücke war älter
als, sagen wir, dreißig Jahre. Der Grundriß des Zimmers bildete ein Trapez. Ich
war da.
Mitch registrierte den Grad
meiner Ergriffenheit und ließ mich allein; ich mußte gewirkt haben wie eine
alte Katholikin, der ihr Sohn zum Muttertag eine Reise zum
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