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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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halbverfaulten Tomaten am Bahnhof von Taunton
absieht.
    Als der Bus hielt — Lynton Town
Hall, verkündete der Fahrer — , konnte ich es kaum glauben, daß die Tortur nun
ein Ende haben sollte. Zumindest fürs erste. Ich hievte mein Gepäck aus dem Zug
und schob es vor mir her über die Straße, ein monströser Skarabäus mit seiner
Mistkugel. Von irgendeinem Meer war nicht die Spur zu sehen, ich verschnaufte
erst mal und gönnte mir, rittlings auf dem größten Koffer, eine Benson. Mein
Blick streunte ignorant die Häuserfassaden entlang, völlig resistent gegen die
Reize gelungener Blumenarrangements in den Vorgärten, einzig auf der Suche nach
Schildern, die Eßbares versprachen. Als ich mich umdrehte, um im Außenfach der
kleinen Reisetasche nach meiner letzten Dose Bitter zu suchen, bemerkte ich, wo
ich hier saß. Hinter mir plusterte sich ein wahrhaft imposantes Geschöpf in der
Vormittagssonne auf, ein würdiger Gockel im Hühnerstall der viktorianischen
Repräsentationsbauten. Zwei achteckige Türme, von einer Art Triumphbogen
verbunden, stützten das gewaltige Dach mit den drei Giebeln. Auf einer
Balustrade vor dem Hauptgiebel prangte ein Wappen, umrankt von Girlanden, die
wie Seeschlangen aussahen, und darüber in goldenen Lettern die Aufschrift Lynton
and Lynmouth Town Hall. Auf dem Wappen konnte man ein Gemisch von Mintgrün
und Orange sehen, gesprenkelt mit kleinen schwarzen Klecksen. Ich ging ein paar
Schritte näher, um festzustellen, ob Lynton tatsächlich ein abstraktes
Stadtwappen besaß; nach einigen Drehungen des Kopfes konnte ich die mintgrünen
Flecken als Klippen identifizieren. Die schwarzen Kleckse stellten ohne jeden
Zweifel Kopf, Körper und Beine einer Ziege dar. Die Stadt, die ich mir zum
Domizil erkoren hatte, meine vorübergehende Wahlheimat gewissermaßen, hatte
sich also die Ziege zum Wappentier erwählt.
    Ins Gemäuer eines der Türme war
ein Fenster mit steinernem Kreuz eingelassen, und hinter dem Glas klebte —
diese Entdeckung ließ mich selbst das Hungerloch in meinen Eingeweiden
vergessen — ein unverhältnismäßig schlichtes Schildchen, das in abgemagerten
Versalien verkündete: LYNTON AND LYNMOUTH TOURIST OFFICE. Hier residierte sie
also, meine mitleidlose Telefonistin. Ich entsorgte noch den John Smith in
zwei, drei Zügen, dann war ich bereit. Handgeschriebene Ankündigungen
regionaler Ereignisse; Stapel von unverschämt teuren Wanderkarten, eigentlich
mehrfach gefaltete hektografierte Zettel; Hotelfotos hinter Plexiglas; ein
Bretterverschlag, hinter dem zwei rotgesichtige Herren ihres Amtes walteten.
Weit und breit keine Spur der Eiskönigin.
    Ich wünsche, sagte ich zu einer
der beiden Scharlachbacken, Meerblick, falls es das hier gibt, Luxus, zumindest
für britische Verhältnisse, ein sehr großes Badezimmer, schwere
Nikotinhörigkeit sowohl des Gastgebers als auch der Gastgeberin, das alles
bitte nicht allzu teuer und vor allem sofort. Der ausgemergelte Mann musterte meine
Leibesfülle entschieden länger, als es den Regeln der Höflichkeit entsprach,
dann fragte er mich, nicht ohne zuvor sein gesamtes Potential an Verachtung
mobilisiert zu haben, »are you German?« Sein Atem war eine arktische Windböe,
er schluckte einmal heftig ins Schweigen hinein, als müsse er den
hochgestiegenen Gallensaft wieder in sein angestammtes Organ zurückzwingen. An
seinem Blick konnte man sich die Pulsadern aufschneiden. Überhaupt nicht, sagte
ich schnell, ganz und gar nicht, ich käme aus good old Vienna, unterrichte dort
englische Literatur und sei auch im Privatleben ganz entschieden, fast schon
krankhaft anglophil. Mein Gegenüber entspannte sich ein wenig, würdigte mich
aber fortan keines Blickes mehr. Er ließ seinen Kopf dreißig Grad nach vorne
fallen, seiner Wirbelsäule entfuhr ein metallisches Geräusch, als wäre ein
Bolzen eingerastet.
    Seine Finger blätterten in
Listen, gelegentlich zog er mit einem Bleistift Ellipsen um Telefonnummern,
griff sich den Hörer und wählte, nahm die abschlägigen Antworten entgegen und
blätterte weiter. Ich rauchte und wartete, wartete und rauchte. So ging der
Vormittag hin. Als mein Rücken das lange Stehen nicht mehr ertragen konnte,
wollte ich kurz erklären, daß ich eine Viertelstunde an die frische Luft, hier
drin sei alles so verraucht, er käme doch sicher ohne mich zurecht, doch just
in diesem Moment veränderte sich die Stimme des Beamten, er schien aus dem
Hörer gute Nachrichten zu empfangen, fragte mich nach meinem

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