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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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überlassen will. Die »Vipergedanken«, die
sich um den Geist des Ich schlängeln, wollen ihm die schnelle Erleichterung
seiner Selbstabdankung nicht gönnen und stören die Feierstunde der
Machtübergabe an die entkörperlichte Metaphysik mit dem einzigen Aufruhr, der
ihnen geblieben ist: dem Tumult der Erinnerung. Denn außerhalb der Glaskuppel
befindet sich nicht etwa ein angrenzender Raum, sondern eine andere Zeit, eine
mögliche Zukunft, die sich als Vergangenheit tarnt, um dem im Abtöten seines
Körpers begriffenen Ich nicht allzuviel Angst einzujagen.
    Und Coleridge schaut aus dem
Fenster seines Arbeitszimmers, und er sieht nicht nur die Wolken am
gegenwärtigen Horizont, deren grünes Leuchten ihm kein Gefühl mehr entlockt, er
sieht auch die Wolken einer anderen Zeit, »hell strahlend, die Erde umhüllend,
er sieht die sich ergießende Fülle des Lebens, Wolke zugleich und Schauer«,
begriffen im schlichten, aber dennoch nicht übersetzbaren Wort »Joy«, in dem
sich die privaten und politischen Leidenschaften einer nicht zu fernen
Vergangenheit, einer unterhalb der Abstraktion immer noch brodelnden Lebenswut
verdichten. Denn diese leuchtende Wolke ist nicht nur als persönliches
Wunschgespinst »hell, leicht und fließend« , sie kann auch »die Erde umhüllen«
— das zumindest erträumte sich Citizen Samuel einst in Bristol, und in diesen
verlorenen Traum starrt er jetzt, vom kargen Dachboden seiner Gegenwart aus
mitten hinein ins zornige Herz seiner Vergangenheit, an das die Venen und
Arterien seiner Zukunft immer noch angeschlossen sind — und schmerzverstockt
beschließt er, daß dieser Blutfluß ab sofort aufzuhören hat.
    Natürlich nicht ohne noch die
besten Wünsche an seine Geliebte hinzuzufügen. »Mögen alle Sterne strahlend
über deinem Haus stehen, schweigend, als betrachteten sie die schlafende Erde!«
Ich für meinen Teil ziehe mich aus dem Fluten und Fließen und Feuchten zurück.
Mir mögen die abmeßbaren einfarbigen Wolkenformationen an der Zimmerdecke
künftig genügen. Das Haushaltsheft wird zugeklappt, die überschriebenen
Rechenlinien sind geblieben. O Geliebte, »Dear Lady, o mögest du immer,
immerfort dich freuen«. Wenigstens du.
    Obwohl er nun dasitzt wie ein
Kaninchen vor der Schlange, verspürt die Schlange, die eigentlich der
begehrende Körper des denkenden Kaninchens ist, dennoch keine Lust mehr, dieses
Kaninchen zu fressen. Die Schlange verkriecht sich ins Bodenloch.
    Bei ihrer Wiederkehr wird sie
allerdings schrecklich sein. Zu lange ausgesperrt von den Futtertrögen der
Seele, wird sie sie schließlich heimsuchen als gefräßiges Monster. Hüte dich
vor dem Schlaf! Die Gier der ungespeisten, im Glashaus der Psyche nicht
geduldeten, aber von ihr selbst geborenen Kreaturen wird irgendwann
unersättlich. In der Nacht fressen sie sich durch die Träume, bei Tag sind sie
selbst durch Opium kaum zu zähmen. Bald ist es, als wären sie überall. Enveloping
the earth , sagt Coleridge. Apropos Envelope. Ich muß endlich Anna
schreiben.

Neun Zurück im Tal, fällte ich eine Entscheidung und verschob den Greta-Hall-Besuch.
Durchnäßt von Schweiß und Regen, hätte ich dort bestimmt keinen
vertrauenerweckenden Eindruck gemacht. Außerdem erinnerte ich mich, irgendwo gelesen
zu haben, das ehrwürdige Haus sei jetzt ein Mädcheninternat. Ein
furchteinflößender Gedanke. Ich läute, eine elegante Lady öffnet die Tür, ich
sage, verzeihen Sie bitte, dürfte ich das Zimmer sehen, in dem der Dichter
Coleridge gelebt hat, Sie wissen schon, der andere, der ab 1800 vollgedröhnt
mit Opium und Weinbrand verzweifelte Gedichte und Briefe verfaßt hat, wissen
Sie, Frau Direktor, ich träume nämlich ständig davon, und meine Freundin, das
heißt, eigentlich die Freundin eines meiner Doktoranden, meinte, ich sollte am
besten einfach mal vorbeischauen, Sie erkennen sicher die immense Bedeutung,
die sich für mich daraus ableitet...
    Mein Magen assistierte rumorend
meinem Hasenherzen, schnell war Greta Hall vergessen, ich ließ die Moot Hall
rechts liegen, Essen im Ortszentrum ist was für Anfänger, spazierte die St.
John’s Road entlang nach Norden und blieb — die Häuserreihen hatten sich schon
gelichtet — vor einem indischen Restaurant stehen. Wirkte von außen so übel
nicht, goldene Drachen- und Löwenköpfe, rote Samtpolsterungen auf den Sesseln,
nicht gerade außergewöhnlich, aber auch kein Menetekel. Furchtlos trat ich ein,
ließ mich in einer Ecke in ein rotes Sofa fallen

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