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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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Kaninchen, aber
nicht zwei oder drei, sondern zwanzig oder dreißig.
    Ich drehte mich um und starrte
den Himmel an, den Sichelmond und den Stern darunter. Sehr große scheinbare
Helligkeit, hätte Anna gesagt. Wie beruhigend, daß es nicht Sirius sein konnte,
nicht zu dieser Jahreszeit.
    O Anna, dachte ich plötzlich,
müde wie schon lange nicht und beinahe zornig, O Anna Anna why am I not happy.
Doch ich phantasierte sie mir nicht auf diesen Hügel herauf, Hand in Hand mit
mir über den Brechern stehend, vor uns die letzten Strahlen der Sonne, hinter
uns der Mond, dazwischen die Kaninchen usw. — ich sah uns durch die Straßen von
Soho schlendern, vorbei an verschwitzten Flaneuren, geschäftlich Gehetzten oder
von Begierden Getriebenen, und schließlich bei meinem Lieblingsinder sitzen; in
verrauchter Luft inmitten lärmender Menschen sehen wir uns tief in die Augen,
hingebungsvoll gebeugt über ein famoses Murgh Crema Masala.
    Langsam ging mir die ganze
Naturidylle auf die Nerven.

Achtzehn Die Ballade von Christabel ist schnell erzählt. Es ist Mitternacht, wie am
Genfer See, nur hört man statt des Donners allerlei Geflügel: Die Eulen haben
den schlafenden Hahn geweckt. Sir Leoline, der alte Graf, hat nicht nur eine
zahnlose Dogge, die sein Schloß zu bewachen hat, sondern auch eine liebliche
Tochter. Die wiederum hat einen fernen Geliebten, einen christlichen Ritter, um
den sie bangt — möglicherweise metzelt er gerade Sarazenen im Namen des Herrn,
wir wissen es nicht. Um für ihn zu beten, schleicht sich Christabel in den
monddurchfluteten Eichenwald und sucht sich ein weiches Plätzchen im Moos.
Zeit: undefinierbares Klischee-Mittelalter; ein Monat, »der vor dem Mai kommt«,
wie es heißt, und Coleridge fügt hinzu, was Besucher und Bewohner des Lake
District ohnehin wissen: »Der Frühling zieht hier nur langsam herauf.« Die
Landschaftsbezeichnungen sind ungleich präziser: Borrowdale, Wyndermere,
Langdale Pikes, Bratha Head: Sir Leolines Anwesen lag vermutlich unweit von
Keswick.
    Doch Christabels Gebete werden
von einem Stöhnen unterbrochen. Sehr nahe. Wir erfahren, daß es der Wind nicht
sein kann, denn der ist selbst dazu zu schwach, »die Ringellocke von der Wange
des lieblichen Fräuleins zu wehen«.
    Das sind nicht die Töne, um
einen wie Shelley schreiend in die Korridore zu jagen. Oder einen Baum vor der
Villa Diodati zu köpfen.
    Christabel verschränkt ihre
Arme unter dem Kleid und umrundet die Gebetseiche. Auf der anderen Seite trifft
sie »ein Mädchen leuchtend hell, gekleidet in ein weißes Seidengewand, das
schattenhaft im Mondlicht schimmerte«: Geraldine.
    Von fünf Kriegern sei sie
überwältigt und entführt worden, auf ein weißes Pferd gebunden, »durch die
Schatten der Nacht« gejagt und unter der Eiche ausgesetzt worden. Krieger auf
weißen Pferden, »schnell wie der Wind«. Geraldines Hals läßt »das weiße Gewand blaß
erscheinen«, ihre »blaugeäderten Füße waren unbeschuht, und wild glitzerten die
Edelsteine, die in ihr Haar geflochten waren«.
    Zwei weiße Mädchen treffen sich
um Mitternacht im Mondlicht, was für ein monochromes Idyll. Doch bald blitzen
die ersten abweichenden Bilder auf: Geraldine, von Christabel zum Dankgebet an
die Holy Virgin aufgefordert, kann vor Müdigkeit nicht sprechen, die zahnlose
Dogge heult ihren Zorn über Geraldines Anblick dem Mond entgegen, als sie die
Zugbrücke überquert, und im Saal flackert aus den verglühten Holzscheiten, die
schon »in ihrer eigenen weißen Asche« liegen, eine Feuerzunge empor, als
Geraldine vorbeigeht.
    Christabel übersieht die
Menetekel, bittet Geraldine in ihre Kammer und reicht ihr einen Wein aus wilden
Blumen, nach dem Rezept ihrer im Kindbett gestorbenen Mutter. »Ach liebe
Mutter«, sagt Christabel, »wärest du nur hier!« Begegnungen mit guten
Muttergeistern gefallen Geraldine gar nicht. »Fort, ruhelose Mutter«, schreit
sie mit hohler Stimme, »Ich habe Macht, dich fliehen zu heißen.« Christabel
scheint es nicht zu hören. »Fort, Weib, fort! Diese Stunde ist mein! — / bist
du auch ihr Schutzgeist, diese Stunde ist mir gegeben.«
    Christabel, die gute, hat nun
zwar endlich etwas gehört — doch sie kniet nur nieder und erhebt zum Himmel
ihre Augen so blau (an dieser Stelle scheinen Coleridge die guten und bösen
Geister gleichzeitig zu verlassen) und kann sich den Ausbruch ihres Gastes
schnell erklären: der wilde Ritt auf dem weißen Roß wird Geraldine verwirrt
haben. Schließlich legt man

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