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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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sich zu Bett, Geraldine sagt den schönen Satz:
»doch nun entkleidet Euch, denn ich muß noch beten«, und es folgt die berühmte
Szene, die Coleridge einen Eintrag in www. lesbianpoetry.com beschert hat.
    Bei der Gestaltung der
bedrohlichen, lamiahaften Aspekte Geraldines verläßt sich Coleridge ganz auf
die Phantasie seiner Zuhörer. Christabel erstarrt zwar, als Geraldine ihre
seidenen Roben zu Boden gleiten läßt, doch die expliziten Szenen früher
Fassungen — der grünliche Schimmer der Schuppenhaut, das von Maden zerfressene
Fleisch, der Gestank der Verwesung, die Deformationen der Fäulnis — werden
schließlich zugunsten einer einfachen Formel getilgt:
     
    Behold! Her bosom and half her
side —
    A sight to dream of, not to
tell!
    O shield her! Shield sweet
Christabel!
     
    Sieh! Ihr Busen und ihre Seite
zur Hälfte —
    Ein Anblick zum Träumen und
nicht zum Aussprechen!
    O beschirmt sie! Beschirmt die
liebliche Christabel!
     
    Doch Christabel will sich gar
nicht beschützen lassen, als Geraldine sie in die Arme nimmt und ihr jene
Prophezeiung ins Ohr flüstert, die den jungen Shelley so erschrecken sollte.
Wie über dem Ozean des Mariner beherrscht im Wald von Langdale der Mond den
Schauplatz der Ketzerei, und wo die Mondgöttin hofhält, wird die Zeit von
Sternen gemessen.
     
    A star hath set, a star hath
risen,
    O Geraldine! Since arms of
thine
    Have been the lovely lady’s
prison.
    O Geraldine! One hour was
thine.
     
    Ein Stern ist versunken, ein
Stern ist aufgegangen,
    O Geraldine! Seitdem deine Arme
    Das liebliche Fräulein gefangen
haben.
    O Geraldine! Eine Stunde war
dein.
     
    Selbst die Nachtvögel schwiegen
diese Stunde lang — auch sie fallen unter Geraldines Bann. Als Christabel
erwacht, rinnen ihr Tränen über die Wangen, sie heult und lächelt gleichzeitig,
das Blut fließt in ihre Füße zurück und prickelt. Auch Geraldine wurde von
dieser Nacht noch schöner gemacht, »sie hat tief / vom Segen des Schlafs
getrunken!« Die Blicke der Frauen treffen sich, und Christabel »begrüßt« ihre
Verführerin »mit solcher Verwirrung des Gemüts, / wie zu lebhafte Träume sie
zurücklassen«.
    Dies alles klingt so gar nicht
nach einer Vergewaltigung durch ein halbverfaultes Monster. Im Höllentempo
oszillieren Geraldines Attribute zwischen »göttlich« und »reptilienhaft«;
Coleridge jagt die Vorstellungskraft des Lesers mit kühnen Überblendungen in
die Wüste der Paradoxie; er verführt ihn dazu, die Fata Morgana einer
gleichzeitig extrem abstoßenden und extrem anziehenden Figur selbst in die Luft
zu zeichnen. Oder davon zu träumen.
    Als dem alten Herrn die Lady
vorgeführt wird, geht ihm das Herz über: nicht nur, daß diese Fremde »strahlend
schön« usw. ist, sie entpuppt sich auch als Tochter seines alten, aus Torheit
verstoßenen Freundes Sir Roland de Vaux of Tryermaine. Er bebt vor Empörung und
schwört, ihren Entführern (die mit den schnellen weißen Pferden) »ihre
Natternseelen aus den Leibern zu treiben«. Als Sir Leoline Geraldine umarmt,
befällt Christabel eine Vision:
     
    Again she saw that bosom old,
    Again she feit that bosom cold,
    And drew in her breath with a
hissing sound
     
    Noch einmal sah sie jenen
welken Busen,
    Noch einmal fühlte sie jenen
kalten Busen
    Und zog den Atem ein mit einem
zischenden Laut
     
    Mit dieser schlichten Formel
hebt sich der immer wieder beschworene Gegensatz »gute Christabel versus
gefährliche Geraldine« auf: angesichts dessen, was sie fürchtet und begehrt,
wird die Jungfrau selbst zur Schlange. So ist das »Schreckensbild« auch schnell
gebannt und weicht der Erinnerung an das »Entzücken in der Brust«, als sie »in
den Armen der Lady« lag.
    Ab diesem Moment fliegen die
Wahnvorstellungen tief im Schloß von Sir Leoline; der Barde Bracy, der
Geraldine zu Lord Roland bringen soll, um ein Versöhnungsfest zwischen den
alten dickköpfigen Freunden vorzubereiten, bittet um Aufschub: er hatte einen
Traum. Er sah eine Taube, von einer leuchtend grünen Schlange umwickelt, in
Todesangst ihren Hals blähen — ein Bild, das sich wie jede ernstzunehmende
Vision nicht durch simples Aufwachen vertreiben ließ:
     
    This dream it would not pass
away —
    It seems to live upon my eye!
     
    Dieser Traum wollte nicht von
mir weichen —
    Er scheint auf meinen Augen zu
leben!
     
    (Soll er ruhig dort leben,
könnte STC auch sagen, eines Nachts kommt sicher Ebon Ebon Thalud und reißt ihn
heraus — mitsamt dem Auge...)
    Sir Leoline

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