Der Weg nach Xanadu
kümmert das wenig,
für ihn sind die Rollen klar verteilt: die Taube ist Geraldine, ihre Feinde
sind die Schlange. Er küßt die Lady auf die Stirn, Zeit für die nächste Vision,
diesmal erwischt es wieder Christabel:
And the lady’s eyes they shrunk
in her head,
Each shrunk up to a serpent’s
eye
Und die Augen des Fräuleins,
sie schrumpften in ihrem Kopf, Jedes schrumpfte zu einem Schlangenauge
Das müßte Christabel längst
wissen, doch sie kämpft gegen ihre frühere Einsicht. Sie bittet ihren Vater,
Geraldine wegzuschicken — ein kurioses Ansinnen angesichts der Tatsache, daß
der ohnehin gerade ihren Aufbruch nach Tryermaine verkündet hat. Aber
Coleridges Dramaturgie erlaubt Widersprüche und Wiederholungen, Hauptsache,
sein komplexes Vexierbild erhält eine zusätzliche Facette. Nicht nur Christabel
muß erkennen, daß sie im Moment ihres Begehrens selbst Geraldine ist, auch dem
von seiner Herzensgüte in die Naivität getriebenen Schloßherrn gönnt die
Schlange einen Bissen vom Apfel der Erkenntnis.
So muß er nun seine Tochter
sehen:
So deeply had she drunken in
That look, those shrunken
serpent eyes,
That all her features were
resigned
To this sole image in her mind.
So tief hatte sie jenen Blick
in sich eingesogen,
Jene eingeschrumpften
Schlangenaugen,
Daß alle ihre Gesichtszüge
Diesem einzigen Bild in ihrer
Seele ergeben waren.
Während Sir Leoline zwar sieht,
aber doch nicht versteht (es war ja nur ein kleiner Bissen), und ein bißchen
böse ist auf seine wenig gastfreundliche Tochter und Coleridge in der Conclusion noch eine Erklärung nachliefert, warum Väter manchmal nicht anders können, als
»den Überschwang ihrer Liebe / mit Worten ungewollter Bitterkeit« auszudrücken,
und dann abbricht — auch Christabel ist Fragment geblieben — , leuchtet
das »sole image« den anderen Texten des annus mirabilis noch gehörig heim.
Trotz aller »Shield-her! — Shield-sweet-Christabel!«-Beschwörungen will sich
auch Samuel Taylor Coleridge nicht mehr beschützen lassen vor der heidnischen
Mänade, er ist kurz davor, sich ganz einzulassen auf die Verlockungen der
Abessynian Maid, zum Demon-Lover zu konvertieren, die christliche Armbrust des
Ancient Mariner endgültig in die Welt der Meeresgöttin Life-in-Death zu versenken.
Der Kampf zwischen Coleridges christlichem und heidnischem Ich scheint in der
Sternstunde der Umarmung Geraldines und Christabels endlich entschieden zu
sein. Die Anziehungskraft der weißen Göttin wird Lord of His Utterance, die Tür
in die andere Welt ist offen, weit und breit kein Geschäftsmann aus Porlock in
Sicht, der sie wieder zuschlagen könnte. Der tote Albatros gleitet von seinem
Nacken. Und die Große Schlange, greater than Jehovah, die ihn seit
seiner Kindheit beim Beten gestört hat, küßt ihn endlich auf den Mund.
Eine Stunde, Geraldine, ist
dein, oder ein Jahr — im Frühjahr 1799 sitzt Coleridge in Deutschland und
schreibt kindische Verse in Wunderhorn-Manier. Niedergedrückt von
Schuldgefühlen, auf dem Weg zur Scholastenexistenz. Und ich soll dieses Rätsel
lösen, indem ich mein Traumzimmer finde, das auch seines sein soll? Wie
abwegig, hebe Anna.
Neunzehn Es versteht sich von selbst, daß es für eine derart ungewöhnliche schöpferische
Explosion wie Coleridges magisches Jahr zahlreiche Erklärungsansätze gibt;
selbst die Wissenschaft läßt sich gerne von Geheimnissen inspirieren, auch wenn
sich so mancher Verfasser lieber im Licht der eigenen Theorie sonnt, als die
offenen Fragen zu beachten, die hinter ihm im Schatten liegen.
Die Freundschaft mit Wordsworth!
Latente Homosexualität! Die heimliche Liebe zu Dorothy! Sublimierung einer
verbotenen Leidenschaft! Die erste Begegnung mit Opium! Heureka! Doch je
zwingender sich die Thesen gebärden, desto sichtbarer wird das dünne Eis, auf
dem sie sich bewegen. Die schönsten Texte sind jene, die einfach nur
Verwunderung ausdrücken. »Es wäre noch verständlich«, schreibt etwa Alvarez,
»wenn diese drei Gedichte einfach gut wären. Jeder Dichter kann im Lauf der
Arbeit eines ganzen Lebens eine Handvoll guter Gedichte hervorbringen.
Coleridges Meisterwerke sind jedoch einzigartig — mit nichts anderem in der
englischen Literatur zu vergleichen — , und sie wirken im Kontext seiner
anderen Versdichtungen fast fehl am Platz.« Selbst die großartigste aller
Hommagen an Coleridges Tragödie in drei Akten, Ted Hughes’ Essay »The Snake in
the Oak«, erhellt
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