Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
Eileen gemacht?«
»Früher bin ich nicht auf die Idee gekommen. Aber jetzt bin ich
nicht mehr so sicher.« Sie kommt wieder auf seine ursprüngliche Frage zurück.
»Die ehrlichste Antwort, die ich dir geben kann, ist die, daß ich es wegen der
Aufmerksamkeit getan habe. Ich sehnte mich damals verzweifelt nach
Aufmerksamkeit. Das tue ich, glaube ich, immer noch.«
»Das tut jeder«, sagt er.
Thomas dreht das Radio auf volle Lautstärke, was er selten tut.
Er singt laut und falsch, und sie muß lächeln. Sie lehnt sich in den Sitz
zurück. Sie kann ihr Glück nicht fassen. Sie hat jetzt Thomas und eine Zukunft – Jahre voller Möglichkeiten. Die Sonne geht unter, und Schatten fallen auf die
Hauswände. Es wird kälter, und sie greift nach ihrem Mantel.
»Ich liebe dich«, sagt sie, als sie in eine scharfe Kurve biegen.
Es ist die Wahrheit. Sie weiß, daß sie ihn ihr ganzes Leben lieben
wird.
Ein kleines Kind, ein Mädchen von etwa fünf oder sechs Jahren, sitzt
mitten auf der Straße auf einem Dreirad. Sie sieht den heranfahrenden Skylark,
hebt das Dreirad bis zur Taille und rennt damit an den Straßenrand.
Es ist eine ganz kurze Szene und ein leicht komischer Anblick. Das
große Staunen auf dem Gesicht des Mädchens, die vernünftige Entscheidung, das
Dreirad zu tragen, der schnelle Watschelgang zum sicheren Straßenrand. Und wenn
Linda und Thomas weitergefahren wären, hätten sie nach dem Schrecken
erleichtert gelacht, und der Scotch hätte das Lachen in Kichern verwandelt.
Aber sie fahren nicht weiter.
Thomas bremst und weicht aus, um das Mädchen nicht zu überfahren.
Linda schreit, als ein Telefonmast und ein Baum vor ihr auftauchen. Thomas
reißt das Steuer herum, der Wagen schleudert über die schmale Straße, und ein
Hinterrad bleibt in einem Graben stecken.
Es passiert alles so schnell.
In den Sekunden, in denen sie durch die Luft fliegen – in diesen
letzten Sekunden von Lindas Leben, als sowohl die Zeit wie der Skylark einen
Purzelbaum schlagen –, sieht Linda nicht die Vergangenheit vor sich, nicht ihr
vergangenes Leben, das in solchen Momenten angeblich vor einem abrollt, sondern
ihre Zukunft: nicht das Leben, das sie gelebt hat, sondern das, was sie
vielleicht hätte haben können.
Ein Haus inmitten eines Chrysanthemenfelds in einem fernen Land.
Ein kleiner Junge, der auf ihrem Schoß sitzt und dessen Kopfhaut von
Krankheit entstellt ist.
Ein weißer Raum mit hübschen Fenstern, in dessen Mitte ein
Zeichentisch steht.
Ein Kind namens Marcus, das zarter ist als seine Schwester.
Orangen, die verstreut auf einem Küchenboden liegen.
Ein Hotelzimmer mit einem Spiegel und ihr alterndes Gesicht darin.
Ein Flugzeug, das sich über die Wolken erhebt.
Eine Party, auf der ein Buch gefeiert wird.
Ein Strandhaus mit einem Mann – groß, elegant und schön –, der auf
der Veranda sitzt.
Der Skylark stürzt die Uferböschung hinab, die Fenster des Wagens
werden eingedrückt. Linda streckt eine Hand nach Thomas aus und sagt seinen
Namen.
Thomas. Ihr geliebter Thomas. Wer wird den
Zyklus von Gedichten namens Magdalena weiterschreiben, der von einem Mädchen handelt, das im Alter von erst siebzehn
Jahren bei einem Autounfall starb? Und wer wird eines Tages einen Preis
bekommen, dann seine Tochter verlieren und sich kurz vor vier Uhr an einem
Sonntagnachmittag in Toronto das Leben nehmen, weil die Last seiner Verluste
schließlich nicht mehr zu ertragen war?
Aber nicht bevor er das unbarmherzige Licht des Äquators, eine
nur in seinen Träumen vorhandene Liebe kennengelernt hat – und den zähen Kampf,
die unbegrenzten Möglichkeiten des Lebens in Worte zu fassen.
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