Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
vieles
nachdenken und hatte zuwenig Zeit, es zu tun. Schon längst hatte sie sich damit
abgefunden, übermäßig viel Zeit zum Nachdenken zu brauchen (mehr als andere zu
brauchen oder sich nehmen zu wollen schienen). Und jahrelang hatte sie in dem
Glauben gelebt, dies sei eine Folge ihres Berufs, ihrer Kunst, obwohl es
eigentlich umgekehrt war: der Geist suchte und fand Beschäftigung, und
Unzufriedenheit setzte ein, wenn es ihm nicht gelang.
Und natürlich war die Kunst ein Schwindel. Weshalb sie sich keinem
Podium nähern konnte, ohne einen Anflug von Verdruß zu spüren, den sie nie ganz
verbergen konnte. Ihre Schultern unter der Jacke oder Bluse waren hochgezogen,
ihre Blicke trafen sich nicht mit denen des Publikums, als würden die Leute sie
herausfordern, sie des Betrugs anklagen – wenngleich am Ende doch nur sie
wissen konnte, daß sie dessen schuldig war. Nichts war leichter und zugleich
qualvoller, als die langen erzählenden Gedichte zu schreiben, die ihr Verlag
gedruckt hatte. Leicht insofern, als es sich einfach um aufgeschriebene
Tagträume handelte, aber quälend in dem Moment, in dem sie wieder in den
Wachzustand zurückkehrte (das Telefon klingelte, die Heizung im Keller sprang
an), sich die Worte auf der blaulinierten Seite ansah und zum erstenmal die
verlogenen Metaphern entdeckte, die Manipulation und die trickreichen
Wortspiele, die, wenn es ein guter Tag war, zu ihren Gunsten ausschlugen. Sie
schrieb Gedichte, die, wie man ihr gesagt hatte, eingängig waren, ein fabelhaftes, aber im Grunde aalglattes Wort, das sich sowohl für
beißende Kritik wie überschwengliches Lob eignete, was sie ihrer Meinung nach
beides nicht verdiente. Ihr größter Wunsch war, anonym zu schreiben, aber das
erwähnte sie ihren Verlegern gegenüber nicht mehr, denn sie schienen leicht verstimmt
zu sein über diese Andeutungen, über die offensichtliche Undankbarkeit
angesichts der hohen – und ermüdenden? – Investition, die sie gewagt hatten und
die sich nach all den Jahren schließlich auszuzahlen begann. Einige ihrer
Gedichtbände verkauften sich inzwischen gut (einer davon sogar sehr gut), aus
Gründen, die niemand vorhergesehen hatte und die auch niemand zu verstehen
schien. Die Verkaufserfolge ließen sich auf das schwer faßbare Phänomen
»Mundpropaganda« zurückführen.
Sie breitete auf dem Bettüberwurf ihre Sachen aus: den olivfarbenen
Koffer (schmal und weich wegen der neuen engen Gepäckfächer), die abnehmbare
Computertasche (wegen der Sicherheitsüberprüfungen mußte sie abnehmbar sein)
und ihre Mikrofasertasche mit den acht Fächern für Handy, Notizbuch, Stift,
Führerschein, Kreditkarten, Handcreme, Lippenstift und Sonnenbrille. Noch immer
im Mantel, ging sie auf die Toilette und suchte dann nach dem Behälter für die
Kontaktlinsen, damit sie die unangenehmen Kunststoffdinger aus den Augen nehmen
konnte. Die Linsen waren von Flugzeugluft und vom Rauch einer Bahnhofsbar in
Dallas verschmutzt, wo sie einen vierstündigen Aufenthalt hatte, der
schließlich damit endete, daß sie vor einem Teller Nachos und einer Diät-Cola
kapitulierte. Ganz allmählich begann sie, die Erleichterung zu genießen, die
ihr Hotelzimmer immer boten: ein Ort, an dem niemand sie belangen konnte.
Erneut setzte sie sich auf das viel zu große Bett und lehnte sich
gegen zwei Kissen. An der Wand gegenüber hing ein vergoldeter Spiegel, in dem
sich das ganze Bett widerspiegelte. Seltsam, sie konnte in keinen solchen
Spiegel sehen, ohne an verschiedene aussprechliche und unaussprechliche
Handlungen zu denken, die höchstwahrscheinlich vor ihm stattgefunden hatten.
(Sie hielt Männer für besonders anfällig, was Spiegel in Hotelzimmern
anbelangte.) Ihre Spekulationen führten sie unweigerlich zu den Substanzen, die
genau auf diesen Bettüberwurf gelangt oder darüber vergossen worden waren (wie
oft? Tausende von Malen?), und der Raum war sofort mit Geschichten angefüllt:
Ein verheirateter Mann, der seine Frau liebte, aber nur einmal im Monat mit ihr
schlafen konnte, weil er süchtig danach war, während seiner häufigen
Geschäftsreisen vor Hotelspiegeln über sie zu phantasieren, weil ihr Körper nur
das Objekt seiner sexuellen Vorstellungen blieb. Ein Mann, der seine Kollegin
überredete, eine der aussprechlichen Handlungen an ihm auszuführen, und der den
Anblick ihres unterwürfigen Kopfes genoß, der sich im Spiegel auf und ab
bewegte, um ihr dann, nachdem er zusammengesunken war, in einem Anfall, der
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