Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
einem hinderlich aussehenden Wulst anschwollen. Er zog den Reißverschluss von Levs billiger Segeltuchtasche auf und holte den Inhalt heraus: die Kleidungsstücke, die Lev in der Bahnhofstoilette ausgezogen hatte, seinen schmierigen Kulturbeutel, saubere T-Shirts und Pullover, ein Paar neue Schuhe, mehrere Päckchen russische Zigaretten, einen Wecker, zwei Hosen, Fotos von Marina und Maya, einen Geldgürtel, ein Englischlexikon und seine Fabelbücher, zwei Flaschen Wodka ...
    Lev wartete geduldig. Hunger rumorte in seinen Eingeweiden, die eindeutig von all den hart gekochten Eiern, die Lydia ihm aufgedrängt hatte, verstopft waren. Er starrte auf seine auf dem Gehsteig ausgebreiteten kümmerlichen Habseligkeiten.
    Schließlich packte der Polizist die Tasche wieder ein und stand auf. »Sie haben doch eine Adresse in London? Was zum Schlafen? Hotel? Wohnung?«
    »Bier und Bier«, sagte Lev.
    »Sie haben ein B & B? Wo denn?«
    Lev zuckte die Achseln.
    »Wo ist Ihr B & B?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Lev. »Suche eins.«
    Eine knurrige, drängende Stimme kam jetzt aus dem Funkgerät. Der Polizist (dessen Rang Lev nicht einschätzen konnte) presste sich das Gerät an den Kopf, und die Stimme entließ einen Strom unverständlicher Wörter in sein Ohr. Jetzt entdeckte Lev das Polizeimotorrad, das, üppig mit fluoreszierenden Abziehbildernbepflastert, schräg zum Bordstein geparkt war, und er dachte, Rudi hätte sich bestimmt für die Marke interessiert und wie viel Kubik sie hat, ganz im Gegensatz zu ihm, Lev. Er wartete schweigend und hörte zum ersten Mal, wie der Vogel die Blätter über seinem Kopf bewegte. Selbst im Schatten des Baums war es heiß. Lev hatte keine Ahnung, ob es noch Morgen war.
    Der Polizist sprach in sein Funkgerät und entfernte sich dabei. Zwischendurch schaute er sich, wie ein Hundebesitzer ohne Leine, nach Lev um, ob er auch nicht weggegangen war. Dann kam er wieder und sagte: »Gut.«
    Er hob Levs Tasche und die leere Wodkaflasche auf und drückte sie ihm zusammen mit seinem Pass in die Hand. Jetzt erinnerte er Lev an einen Schlägertypen in seiner Schule, der Dmitri hieß, und Lev fiel wieder ein, dass Dmitri in einer Straßenbahn gestorben war, die auf dem Yarbler Marktplatz entgleist war, und dass Rudi und er gelacht und vor Freude geschrien und getobt hatten, als sie von diesem Tod hörten.
    »Los jetzt«, sagte der Polizist. »Auf der Straße wird nicht geschlafen. Das ist asoziales Verhalten und wird mit einer hohen Strafe geahndet. Also bringen Sie sich in Ordnung. Putzen Sie Ihre verdammten Schuhe. Lassen Sie sich die Haare schneiden, vielleicht haben Sie dann eine Chance.«
    Lev blieb, wo er war. Langsam schob er seinen Pass wieder in die Jackentasche und sah zu, wie der Polizist seine massige Gestalt auf die schwere Maschine hievte und sie auf die Straße lenkte. Er erweckte den Motor zu lärmendem Leben und fuhr davon, ohne einen Blick auf Lev zu werfen, als existierte Lev in seinem Kopf nun nicht mehr.
    Lev sah auf die Uhr. Sie zeigte 12.23, aber er hatte keine Ahnung, ob das englische oder noch die Zeit in Auror war, wenn die Kinder in Mayas kleiner Schule auf einer Bank saßen und ihr Mittagsessen verzehrten, das aus Ziegenmilch und Brot und sauren Gurken bestand und manchmal, im Sommer, wilden Erdbeeren von den Hügeln oberhalb des Dorfs.Am Fluss angekommen, setzte Lev seine Tasche ab und zog einen Zwanzigpfundschein aus seiner Brieftasche. Er kaufte zwei Hotdogs und eine Dose Coca-Cola an einem Kiosk, und es wurde ihm ein Berg Wechselgeld in die Hand gedrückt. Er war stolz auf diese Transaktion.
    Er lehnte sich gegen die Ufermauer und schaute auf London. Das Essen kam ihm schwer und scharf vor, die Cola schien seine Zähne zu zwicken. Obwohl der Himmel blau war, hatte der Fluss eine schimmernde grüngraue Farbe, und Lev fragte sich, ob das für alle Flüsse in Städten galt − dass sie, wegen des jahrhundertealten dunklen Schlamms auf dem Grund, nicht mehr den Himmel widerspiegeln konnten. Auf dem Wasser bewegten sich schwerfällige Touristenboote in beide Richtungen, an Bord sorglose Menschen, die dicht gedrängt oben an Deck saßen und in der Sonne Fotos schossen.
    Gebannt betrachtete Lev diese Menschen. Er beneidete sie um ihre Unbekümmertheit, ihre Sommershorts und um die Stimme des Reiseführers, die über das Wellengekräusel herüberklang und in drei oder vier verschiedenen Sprachen die Namen der Gebäude aufzählte, so dass die Menschen auf den Dampfern sich nie

Weitere Kostenlose Bücher