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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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daran, wie Lydia gestrickt hatte, und an ihre weißen Hände mit den Grübchen und die hart gekochten Eier, die sie mit einer solch bemerkenswerten Umsicht gegessen hatte, dass kein Krümel Ei, kein Stück Schale auf ihren Rock oder auf den Teppichboden des Busses gefallen war.
    Lev ging langsam zum Fenster seines Zimmers und schaute hinaus. Die Sonne wurde von der Rückseite eines hohen Gebäudes verdeckt, und nur wenige Zentimeter vom Fenster entfernt war ein verrußtes flaches Dach, auf dem eine Taube entlangspazierte.
    »Tauben«, hatte Stefan einmal gesagt, »tragen die Seele des Landes in die Stadt: die Seelen der Bäume und Waldgeister. Die Seelen der Toten des Waldes.«
    »Wer sind die ›Toten des Waldes‹?«, hatte Lev seinen Vater gefragt.
    »Jene, die gelitten haben«, hatte Stefan erwidert. »Sagt die Vergangenheit unseres Landes dir denn überhaupt nichts?«
    Lev war aufgestanden und hatte sich dem Gespräch entzogen. Er hatte es gehasst, wenn Stefan ihn zurechtwies, was er so häufig getan hatte, und das Gerede des alten Mannes von »Waldgeistern« machte ihn jedes Mal wütend und verlegen. Erwusste, dass Stefan in die Bäume hinter Auror »Geistertücher« hängte: Er hatte sie dort wehen sehen, klägliche Gaben für die Toten. Lev hatte sie Rudi gezeigt und gesagt: »Sieh dir das an. Mein Vater und seine Generation! Ich habe die Schnauze so voll von ihnen. In ihren Hirnen herrscht ein komplettes Scheißdurcheinander.«
    »Stimmt«, hatte Rudi geantwortet und auf die Stoffstreifen geschaut. »Die Geschichte hat sie in einem Alter erwischt, in dem man sich leicht beeindrucken lässt.«
    Jetzt starrte Lev auf die Taube, ihre weinfarbenen Beine, ihren kleinen, ruckenden Kopf. Inzwischen war Stefan einer der »Toten des Waldes« und lag begraben in einer überwucherten Grabstelle hinter Auror, wo Tannen und Eschen sich selber aussäten. Aber Lev hatte ihn selten besucht. Er wusste, dass Ina dort hinging und manchmal Maya mitnahm, und im Sommer kamen sie dann, die Arme voller wilder Margeriten, wieder nach Hause, und Maya erzählte Lev: »Wir haben den Platz gesehen, wo Großpapi schläft.« Lev hatte halb beschlossen, vor seiner Abreise nach England noch einmal hinzugehen, um seinem Vater so etwas wie Lebewohl zu sagen, aber am Ende hatte er es doch nicht getan. Und es war einfach gewesen, es nicht zu tun. Es war einfach gewesen, diesen Besuch als sinnloses, sentimentales Ritual abzutun. Doch als Lev jetzt die Taube auf dem flachen Dach sah, fiel ihm auf der Stelle Stefan ein, und er sah ihn sofort gestochen scharf vor sich, wie er vor seiner halb gegessenen Salami in Baryn auf dem harten Stuhl saß, mit seinen fleckigen Händen Brot brach und sich den buschigen Schnurrbart mit dem Taschentuch abtupfte. Und er sah in Stefan auch einen Grund, weshalb er jetzt hier in London war, denn er musste in sich selbst jene Unbeweglichkeit seines Vaters bekämpfen, und er dachte: Ich sollte dankbar für die Schließung der Sägemühle sein, sonst wäre ich genau da, wo er war, ewig auf einem Stuhl. Ich wäre bis zu meinem Tod der Sklave eines Holzhofs, Sklave des immergleichen täglichen Mittagessens und des Schnees, derjahrein, jahraus fällt und verweht, an denselben abgelegenen, rückständigen Orten fällt und verweht.
    Jetzt nahm das Bett seine Knochen in Empfang.
    Es war schon Nachmittag. Lev lag, halb von Betttuch und Decke zugedeckt, regungslos in einem Schlaf, der zu schwer für Träume war.
    Einmal tauchte er aus seiner Betäubung auf, nur um zur Toilette zu stolpern und die Cola in eine saubere Schüssel zu pinkeln, die nach Karamellbonbons roch, und um festzustellen, dass der Himmel über London dunkel wurde und ein paar Lichter in dem Wohnblock gegenüber angegangen waren. Er ließ Wasser ins Waschbecken laufen und trank und hörte ein Lachen im Flur.
    Das Bett war bequemer als jedes, in dem er bisher geschlafen hatte, und er versuchte, nicht an den Preis zu denken, sondern nur an das Glück, dass er hier liegen konnte, während die Stadt um ihn herum sich auf ihre Nacht vorbereitete und die Frau, die Sulima hieß, still und diskret in der Empfangshalle saß und aufpasste.
    Er knipste eine Nachttischlampe mit Schirm an und fiel für einen Moment in die alte Gewohnheit, sich − wie früher in Auror − zu fragen, wie lange es wohl Strom geben würde, ehe ein selbstgefälliger Ingenieur im Yarbler Elektrizitätswerk einen Schalter umlegte, um die Energie woandershin zu lenken. Einmal hatte Maya ihn

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