Der weite Weg nach Hause
Taxifenster schimmerte London, eine Vorzeigestadt, ohne jede Erinnerung an Krieg. Hin und wieder glaubte Lev ein Gebäude wiederzuerkennen, das er in einem der Diavorträge im Englischunterricht in Yarbl gesehen hatte, aber er war sich nichtsicher. Er spürte einzig und allein den Ansturm des englischen Tags, spürte, wie die Zeit sich mit dem strömenden Verkehr und den hastenden Menschen und der Sonne, die hinter Dächern und Türmen auftauchte und verschwand, immer mehr beschleunigte.
Die Besitzerin des Champions Bed and Breakfast stellte sich Lev als Sulima vor. Sie war um die fünfzig. Sie trug einen Sari, ihre Haut hatte die Farbe von Olivenbrot, und ihre Lippen waren glänzend und blutrot; ihre Stimme klang süß in Levs Ohren, höflich und langsam.
Er folgte ihr einen sauberen, mit Teppich ausgelegten Flur entlang bis zu Zimmer 7, und sie ließ ihn eintreten.
»Mein letztes Zimmer«, sagte Sulima. »Sie haben Glück. Alle Zimmer haben Dusche, und Sie können Kaffee kochen. Da ist Ihr Fernseher. Dieses Zimmer ist etwas dunkel, da gegenüber Häuser stehen, aber Sie werden sehen, dass es ruhig ist. Sie werden sehr gut schlafen.«
Lev nickte. Sein Blick ruhte auf dem schmalen Bett mit seinem hölzernen Kopfteil und den zwei sauberen Kissen.
Sulima lächelte ihn an. »Wie viele Nächte wollen Sie bleiben?« fragte sie.
Lev verstand die Frage, wusste aber nicht, was er antworten sollte. Er setzte seine Tasche ab.
»Eine Nacht?« sagte Sulima. »Zwei Nächte?«
»Wie viel sind die Kosten?« fragte Lev.
»Zwanzig Pfund für das Zimmer. 22 mit Frühstück.«
Zwanzig Pfund. Zwanzig Pfund ...
Lev seufzte und verfluchte Rudi, weil er die Sache mit dem Geld so katastrophal falsch berechnet hatte. »Eine Nacht«, sagte er.
»Hätten Sie morgen gern Frühstück?«
Lev zögerte. Er fragte sich, woraus das Frühstück wohl bestand und ob er es sich zumuten konnte. Der Hotdog branntenoch immer in ihm, als wäre sein Bauch mit fettigem Gas gefüllt.
»Ich weiß nicht«, sagte er.
Sulima machte Licht und legte die Fernbedienung des Fernsehers auf den Nachttisch, und Lev sah, dass sie sich auf elegante und unauffällige Weise bewegte. Sie strich die Bettdecke glatt. »Sie können mir wegen des Frühstücks noch Bescheid sagen. Rufen Sie einfach beim Empfang an. Wollen Sie geweckt werden?«
»Wie bitte?«
»Weckruf?«
Lev zuckte die Achseln. Er hatte keine Ahnung, was Sulima gerade gesagt hatte, aber sie schien einfach durch ihr Lächeln zu verstehen, was er fühlte, dass es ihm unmöglich war, noch irgendwelche weiteren Fragen zu beantworten, dass er kurz davor war, zusammenzuklappen. Sie händigte Lev den Schlüssel aus und entfernte sich leise.
Nun, da Lev endlich ein Bett hatte, ließ er sich darauf nieder und konnte den süßen Moment des Augenschließens noch ein wenig hinauszögern. Er legte seine Jacke ab und breitete das restliche Geld aus, das noch in seiner Tasche war, und versuchte, es zu zählen, aber sein Gehirn schien sich gegen jede Art von Rechnen zu wehren. Er saß einfach da und starrte auf die ungewohnten Münzen, bis sein Blick plötzlich auf einem zerknüllten Fetzen Papier haften blieb, den er zusammen mit dem Geld aus der Tasche gezogen hatte. Er hatte den Zettel noch nie gesehen. Er nahm ihn in die Hand, strich ihn glatt und sah, dass einige wenige Worte in seiner eigenen Sprache darauf gekritzelt waren.
Lieber Lev, mir hat diese Reise gefallen. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Wenn Sie einmal jemanden zum Übersetzen brauchen sollten, hier ist die Nummer meiner Freunde, bei denen ich in Nordlondon wohne. Ich werde Ihnen helfen, wenn ich kann.
Mit freundlichen Grüßen, Lydia.
Lev starrte auf den Zettel. Er überlegte, wann Lydia wohl beschlossen hatte, ihn zu schreiben − und ihn dann sogar noch in die Tasche seiner Lederjacke zu stecken! Er lächelte voller Zuneigung. Das war eine Heimlichkeit, wie sie zu Verliebten passte. Er vermutete allerdings, dass Lydia nichts dergleichen im Sinn gehabt hatte. Sie war einfach ein herzlicher Mensch, vielleicht ein wenig einsam, aber Freundlichkeit war ihr Beweggrund gewesen, nicht Sex, und dazu ein ausgeprägtes Feingefühl, das ihr sagte, Lev würde höchstwahrscheinlich niemals die Nummer anrufen, niemals das Risiko der Peinlichkeit eingehen, das mit so einem Anruf verbunden war, mochte es auch noch so gering sein. Trotzdem warf Lev den Zettel nicht fort. Er steckte ihn in seine Brieftasche, und während er das tat, dachte er fast zärtlich
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