Der Wind bringt den Tod
Anreise: Die kleine Anlage für die Besichtigung war mit dem Auto von Odisworth aus in einer halben Stunde zu erreichen – selbst wenn man ein sehr gemächliches Tempo einschlug.
Jule gewann allmählich ihre Souveränität hinter dem Steuer zurück: Auf der Fahrt hierher hatte sie nur einen kleinen Schweißausbruch an einem unübersichtlichen Kreisverkehr erlebt, aber von ihrem alten Tunnelblick und anderen Wahrnehmungsverzerrungen war sie verschont geblieben. Trotzdem traute sie dem Frieden nicht. Was, wenn ihre Angst sie nur in Sicherheit wiegen wollte?
Rund um den Fuß des abgeschalteten Windrads parkte eine Handvoll Autos. Sie stellte ihren BMW neben einem Wagen ab, mit dem sie hier nicht gerechnet hatte: Klaus’ grünem Nissan Micra, in dem sie so oft als Beifahrerin gesessen hatte.
Sie stieg aus und winkte ihrem hageren Kollegen nur beiläufig zu, um zuerst die Gäste aus der ersten Gruppe zu begrüßen, die sich um einen silbergrauen Mercedes versammelt hatten. Mangels’ einäugiger Hund trottete schwanzwedelnd auf Jule zu. »Na, du?«, bedachte sie ihn freundlich und reichte seinem Besitzer die Hand.
»Kann Bismarck mit rauf?«, fragte Mangels.
Jule schüttelte den Kopf. »Der Fahrstuhl geht nicht ganz bis nach oben. Die letzten Meter müssen wir eine Leiter nehmen.«
»Das hätten Sie aber ruhig früher sagen können.« Das Gesicht der Pastorin war bereits wieder ein einziger Vorwurf – zumindest der Teil, der nicht hinter einer kapitalen Sonnenbrille verdeckt war.
»Ich muss Sie auf meiner Liste für diesen Termin übersehen haben«, sagte Jule.
»Störe ich?«
»Sie stören überhaupt nicht. Ich hoffe eher darauf, dass sich Ihre Meinung zur Windkraft nach dem Besuch der Anlage zum Positiven ändert.«
Während Mangels seinen Hund in den Benz beorderte, wandte Jule sich an die nächste Frau in der Runde. Anke Küver wirkte deutlich entspannter als noch vor ein paar Tagen, und Jule wusste auch, warum: Die Tote aus dem Wäldchen war nicht Kirsten Küver gewesen. Deshalb konnte Anke sich nun wieder an der Möglichkeit festklammern, dass sich ihre Tochter irgendwo in Asien herumtrieb.
Ein älteres Ehepaar – Sören und Gabriele Lüders, die so breites Platt sprachen, dass Jule nicht alles verstand, was die beiden von sich gaben – komplettierte die Gruppe. Sie zählten zu den Zögerlichen, obwohl es um nicht einmal ein Zehntel ihres Grundstücks ging.
Jule bat die Odisworther um einen Augenblick Geduld und nahm Klaus zur Seite. Ihm war die Enttäuschung darüber, dass sich ihre Wiedersehensfreude in Grenzen hielt, deutlich anzusehen.
»Ich dachte, Jochen würde das machen«, sagte sie außer Hörweite der Dorfbewohner. Jochen gehörte zu einer seltenen Sorte von Ingenieur: Er vermittelte Fachwissen in für Laien verträglichen Portionen, anstatt sie mit technischen Details zu verwirren. Andreas hatte als Projektleiter viele fragwürdige Entscheidungen getroffen. Jochen als Führer für die Besichtigung heranzuziehen, war keine davon.
»Jochen ist im Krankenhaus«, sagte Klaus.
»Was?«
»Er ist bei seiner Frau. Heute Nacht haben die Wehen bei ihr eingesetzt. Die Zwillinge sind eine Woche zu früh dran.« Klaus zog eine betretene Miene. »Da bin ich für ihn eingesprungen. Ich dachte mir, du würdest dich freuen.«
»Tu ich doch auch.« Das stimmte sogar. Sie nickte mit dem Kinn in Richtung der Besucher. »Mach es bloß nicht zu kompliziert. Und pass mir besonders auf die mit der weißen Windjacke und der Sonnenbrille auf. Das ist eine richtige Querulantin.«
»Das kann ja heiter werden.«
»Okay.« Jule rieb sich die Hände. »Showtime.«
99
Klaus entriegelte das Schott am Turm und schaltete Neonröhren an, die den Einstiegsbereich in ein grelles Licht tauchten. Jule ließ den Odisworthern den Vortritt. Sie wusste ja schon, was sie drinnen erwartete: Die Atmosphäre hatte viel von der in einem U-Boot. Überall hingen Warnschilder, und die runden Wände machten es schwierig, die wahre Größe des Raums einzuschätzen. Der erste Eindruck einer beklemmenden Enge änderte sich jedoch schnell, sobald man nach oben schaute und erkannte, dass man in einer Metallröhre stand, die sich stark verjüngte. Die Stahltrossen des Aufzugs – die einzigen klaren Linien, die den Blick des Betrachters lenkten – führten zu einem scheinbar winzigen Punkt mehr als hundert Meter über dem Boden. Man fühlte sich auf einen Schlag auf einen Bruchteil der eigenen Größe geschrumpft – »wie
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