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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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viel wahrscheinlicher, dass sie ausgewandert ist und alle Brücken zu ihrem alten Leben hinter sich abgebrannt hat.«
    »Ist das Ihre professionelle Einschätzung oder Ihre Meinung als Privatmann?«
    »Sowohl als auch.«
    Smolski gefiel diese Antwort nicht. Seine Lippen bebten, und er rieb sich hastig über das bärtige Kinn. »Sie werden mir also nicht verraten, warum sie bei Ihnen war?«
    »Nicht ohne eine richterliche Anordnung.«
    »Ich kann mir schneller eine besorgen, als Sie es vielleicht für möglich halten.« Ein abschätziges Grinsen tauchte für eine Sekunde auf Smolskis Gesicht auf. »Vor allem, wenn ich dem Richter darlege, dass Sie nach Kirsten Küvers Verschwinden regelmäßig in ihrem Heimatdorf gewesen sind.«
    Seger wich dem stechenden Blick des Kommissars aus, auch auf die Gefahr hin, dass Smolski dies als Teilgeständnis auslegte. »Wir leben in einem freien Land. Ich habe gegen kein Gesetz verstoßen.«
    »Aber sich verdächtig verhalten, finden Sie nicht auch?« Smolski stand auf, stützte die Hände auf der Schreibtischkante ab und beugte sich weit zu Seger hinüber. »Nennen Sie mir einen triftigen Grund, warum Sie in Odisworth waren, und ich lasse Sie in Ruhe. Oder fällt das auch unter Ihre Schweigepflicht?«
    Seger blieb stumm. War das der Moment, in dem er sein Geheimnis endlich preisgeben konnte? Nein, er würde sein Schweigen nicht brechen. Dieser Bulle, der sich da so aufspielte, würde nie begreifen, warum er nicht anders konnte.
    »Hören Sie zu, Mann!«, stieß Smolski gehetzt hervor. Gleichzeitig lag in seiner Stimme ein sonderbares Flehen. »Wenn Sie wissen, wo Rita ist oder was mit ihr passiert ist, dann sagen Sie es mir.«
    Seger schaute auf. »Wer ist Rita?«
    »Was?« Smolski kniff die Brauen zusammen.
    »Wer ist Rita? Sie haben gerade eine Rita erwähnt.« Seger studierte Smolskis Züge. »Wer ist das?«
    »O Gott«, murmelte Smolski. Er ließ sich auf den Stuhl fallen, als würden ihm auf einen Schlag sämtliche Muskeln den Dienst versagen und starrte auf seine Hände. Er war vollkommen bleich. »O Gott …«
    Seger erlebte einen Moment, den er als Therapeut bereits häufig erlebt hatte und der ihn jedes Mal aufs Neue faszinierte: den flüchtigen Augenblick der echten Verbundenheit mit seinem Gegenüber. Schrecklich daran war, dass diese Verbindung fast immer in einem einzigen Anker ruhte – in den Narben der Seele, die einem das Leben beibrachte. Smolski war wie er. Smolski hatte jemanden, der ihm unglaublich wichtig war, verloren.
    »Ich war in Odisworth, weil …« Seger zögerte. Konnte er das wirklich tun? Ja, er konnte es. »Ich war in Odisworth in der Hoffnung, denjenigen zu finden, der für ihr Verschwinden verantwortlich ist.«
    Mehr schaffte Seger nicht, aber es reichte, damit Smolski ihn wieder ansah.
    Sie saßen sich eine Weile schweigend gegenüber, und Seger konnte sehen, wie nach und nach die Farbe in Smolskis Wangen zurückkehrte. Schließlich stand der Kommissar auf und verließ wortlos das Zimmer.
    Seger hörte das Schloss der Praxistür einschnappen. Er horchte lange in sich hinein, weil er nicht glauben konnte, was er da spürte. Die Last, die er zu tragen hatte, war leichter geworden, als hätte er von einem Berg an Schuld ein winziges Scherflein abgetragen.
    »Verzeih mir, Kirsten«, flüsterte er. »Ich kann das nicht mehr. Irgendjemand muss die Wahrheit erfahren.« Dann griff er zum Telefon.

103
     
    Gegen vier Uhr nachmittags und nach ungezählten Fahrten im Aufzug verabschiedete sich Jule in knappen Worten von Klaus. An und für sich konnte sie mit diesem Arbeitstag einigermaßen zufrieden sein. Drei Odisworther aus der Gruppe der Zögerlichen – einschließlich Anke Küver – hatten signalisiert, eventuell über ihren Schatten zu springen. Fünf Skeptiker hatten sich von Klaus’ Ausführungen über die allgemeine Unbedenklichkeit von Windrädern für Mensch und Tier beeindrucken lassen. Ein schlauer Rechner war sogar regelrecht ins Schwärmen über die Zuverdienstmöglichkeiten geraten. Alles vielversprechende Entwicklungen. Wenn da nur nicht der Auftritt der Pastorin im Aufzug gewesen wäre …
    Was hatte diese Frau dazu veranlasst, Jule nur notdürftig verschleiert körperliche Gewalt anzudrohen? Sie dachte kurz darüber nach, ob es sich lohnte, Smolski davon zu erzählen. Wahrscheinlich nicht. Es galt ungefähr dasselbe wie für den Vorfall mit der verstümmelten Puppe: Die Odisworther würden einen Teufel tun, die Pastorin oder sonst

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