Der Wind bringt den Tod
nicht mehr so schlimm. Das lag an dem Skianzug, in den er sie gesteckt hatte. Der Anzug war gut gepolstert, und das tat auch ihrem Rücken gut. Was schlimmer geworden war, war ihr Hunger. Sie hätte nie gedacht, dass man überhaupt so hungrig sein konnte. Ihr Hunger ließ sogar ihren Schrecken ein Stück weit verblassen. Sie malte sich aus, wie Brot schmeckte. Nudeln. Käse. Sogar beim Gedanken an Fleisch lief ihr das Wasser in solchen Mengen im Mund zusammen, dass sie sie kaum schlucken konnte. Dabei hatte sie seit Jahren aus Überzeugung kein Fleisch mehr gegessen. Was, wenn er sie vergessen hatte? Das wäre so ungerecht, weil sie glaubte, die Schwachstelle in seinem Ritual gefunden zu haben. Den einen Punkt, an dem sie ansetzen konnte, um dieser Hölle doch noch zu entfliehen.
Aber was, wenn er nie wiederkommen würde? Dann würde sie hier verhungern. Der Gedanke löste eine solche Panik in ihr aus, dass sie den Kopf hob und versuchte, mit der Zungenspitze den Wollkragen des Skianzugs irgendwie zwischen ihre Zähne zu befördern. Der Stoff kratzte rau über ihre Zunge. Sie presste das Kinn auf ihre Brust und streckte die Zunge weiter und weiter heraus. Ja! Nur noch ein kleines Stück! Sie schaffte es, ihre Zunge unter den Kragen zu schieben. Die Wolle klebte. Vorsichtig zog sie die Zunge wieder ein. Nein! Der Kragen rutschte von ihrer Zunge herunter. In ihre Enttäuschung mischte sich neue Hoffnung. Sie schmeckte etwas! Etwas Fettes, Bittersüßes! Natürlich! Lippenstift! Sie schluchzte vor Glück und begann, sich diese Köstlichkeit mit den Zähnen von den Lippen zu schaben.
Sie würde nicht aufgeben. Sie würde nicht einfach sterben. Nicht jetzt, da sie zu wissen glaubte, wie sie ihn überlisten konnte.
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»Für Sie ist dieser Fall vorbei, Jule.«
Smolskis letzter Satz, mit dem er sich von ihr in der Bergedorfer Polizeiwache verabschiedet hatte, wollte ihr nicht aus dem Kopf. War tatsächlich alles so einfach? Und warum fühlte sie keine Erleichterung darüber, dass der Mörder sich selbst gerichtet hatte? Hing es damit zusammen, dass sie Andreas persönlich gekannt hatte?
Smolski hatte arrangiert, dass sie ein junger Streifenpolizist in ihrem Wagen nach Hause brachte. Sie fuhren schon auf der Lombardsbrücke über die Alster, als ihr bewusst wurde, dass gerade etwas geschah, das noch vor zwei Wochen völlig unmöglich gewesen wäre: Sie saß ohne nennenswerte Angstzustände als Beifahrerin eines wildfremden Mannes in einem Auto, und die Welt drehte sich unbeirrt weiter, als wäre nichts geschehen.
In ihrer Wohnung rief sie zuerst bei Klaus auf dem Handy an. Sie wollte sich bei ihm dafür entschuldigen, dass sie ihn in diese Sache hineingezogen hatte. Gleichzeitig hatte sie vor, sich dafür zu bedanken, dass er mit ihr zu Andreas gefahren war. Zu beidem kam sie nicht: Klaus war kurz angebunden und meinte, er sei gerade beim Essen und sie würden sich dann ja vielleicht Montag im Büro sehen. Sie hätte taub und gefühllos wie ein Stein sein müssen, um nicht zu erkennen, dass er sauer auf sie war.
Da Klaus die Arbeit erwähnt hatte, spielte Jule eine Weile mit dem Gedanken, ihren Chef zu Hause über seinen Privatanschluss zu belästigen und ihm mitzuteilen, dass sie den morgigen Termin mit dem Gemeinderat nicht wahrnehmen würde. Sie hatte jedes Recht dazu. Sie hatte gerade einen Exkollegen tot in seiner Wohnung vorgefunden und hinterher erfahren, dass er mindestens drei Frauen auf dem Gewissen gehabt hatte, wenn nicht mehr. Selbst ein Technokrat wie Schwillmer müsste für eine solche Absage Verständnis zeigen. Trotzdem kam ein solcher Rückzieher für Jule nicht infrage. Es wäre ihr wie eine Kapitulation erschienen. Sie würde nicht den Weg des geringsten Widerstandes gehen.
Andererseits war es durchaus erlaubt, sich etwas Zuspruch für diese mutige Entscheidung zu holen. Also versuchte sie es noch einmal bei Caro. Auch dieses Mal erwischte sie nur die Mailbox. »Warum gehst du nicht an dein Telefon?«, fragte sie, ohne ihren Namen zu nennen. »Ruf mich bitte zurück. Es ist wichtig.«
Zehn Minuten später erhielt sie eine SMS:
Kann gerade nicht. Melde mich später mal.Jule löschte die Nachricht sofort. Während sie darüber nachdachte, ob Caro womöglich doch angefressen war, weil sie ihr unterstellt hatte, sie würde sich mit Lothar Seger regelmäßig über ihr Innenleben austauschen, wanderten Jules Gedanken zum Tarot, das Caro für sie gelegt hatte. Damals war zwischen ihnen noch alles
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