Der Wind bringt den Tod
stellte Jule tonlos fest.
»Die letzte Leiche ist noch nicht identifiziert.« Es war kein Einwand, sondern nur die Benennung eines Umstands. »Ich habe Hoogens darauf angesetzt.«
Jule schloss die Finger um das warme Porzellan ihres Kaffeebechers. »Ich kann es nicht glauben.«
»Was?«
»Wissen Sie, was mir vorhin eingefallen ist? Als ich zu ihm gefahren bin?« Jule machte eine kurze Pause. »Andreas hatte als Kind einen guten Freund in Odisworth. Jan Nissen.« Sie stockte. »Ich habe das alles nur erfahren, weil er mir davon erzählt hat. Dieser Jan ist auch aus dem Dorf weg. Er hat nicht in die kleine Welt dort hineingepasst. Er hat als Junge mit Puppen gespielt und als Teenager gern Mädchen geschminkt. Zumindest Kirsten. Das ist mir vorhin erst wieder eingefallen, als ich zu Andreas fahren wollte. Ich hatte den Verdacht, ich fahre unter Umständen zu einem Mann, der der beste Freund des Mörders ist. Dass er es jetzt selbst gewesen ist …« Sie lachte ein bitteres Lachen. »Das hätte ich inzwischen für völlig unmöglich gehalten.«
»Inzwischen?«, horchte Smolski auf.
»Ja, inzwischen.« Es gab keinen Anlass mehr, Smolski irgendetwas zu verheimlichen. »Bei meinem letzten Besuch bei Andreas ist mir einmal kurz die irre Idee gekommen, er und Jan Nissen könnten ein und derselbe sein. Ich weiß, wie sich das für Sie anhören muss, aber Sie …« Sie zuckte die Achseln. »Sie haben ihn da nicht erlebt. Ich war so eingeschüchtert, dass ich ihn sogar mit einer Nagelschere bedroht habe.«
»Mit einer Nagelschere?«, fragte Smolski.
»Ja. Er hatte eine Pistole. Aber das ist jetzt auch egal. Worauf ich hinauswill, ist, dass ich nie auf den viel näher liegenden Gedanken gekommen wäre, dass Andreas als Junge eventuell auch mit Puppen gespielt und Kirsten geschminkt hat, wo sein bester Freund das doch auch getan hat.« Sie ließ den Kaffeebecher los. »Was ich meine, ist, dass mir das schon viel früher hätte auffallen müssen. Sie waren Freunde, und Freunde machen Dinge oft gemeinsam.«
Smolski beugte sich nach vorn, und einen kurzen Moment wirkte es, als wollte er seine Hand nach ihrer ausstrecken. Dann legte er sie doch nur flach auf den Tisch. »Wir sind keine Maschinen, Jule. Wir machen alle Fehler. Ich könnte mir zum Beispiel in den Hintern beißen, dass ich so viel Zeit auf Fehrs vergeudet habe.«
»Wieso vergeudet?«
»Erinnern Sie sich noch, dass wir die erste Leiche nur wegen eines anonymen Tipps gefunden haben?«, fragte er.
»Ja.«
»Der Tipp kam von Fehrs selbst.« Er seufzte.
»Auch wenn er damit den Verdacht auf sich lenkte«, sagte Jule mit einer Spur Verwunderung.
Smolski verzog das Gesicht, als hätte er mit einem Mal Zahnschmerzen. »Ja, weil er dachte, kein Bulle der Welt wäre so blöd, davon auszugehen, dass ein Schweinebauer, der zum Mörder wird, nicht einen besseren Weg findet, die Leiche zu entsorgen, als sie in einem Wald zu verscharren. Schweine sind schließlich Allesfresser.«
»Oh«, machte Jule. Logisch. Logisch und kaltblütig. »Aber warum hat er seinen Hund getötet?«
»Das habe ich ihn auch gefragt.« Er nickte ihr zu. »Ein paar Tage, nachdem er den anonymen Tipp abgegeben hatte, hat er die Fassung verloren. Er ahnte, dass die Sache mit seiner Frau auffliegen würde. Und dafür hat er dem armen Hund die Schuld gegeben. Erich Fehrs ist kein Mörder, aber weder ein sehr netter Mensch noch jemand, der seinen Zorn gut unter Kontrolle hat.«
Sie schwiegen sich eine Weile an.
»Alles, was wir jetzt noch finden müssen, ist der Tatort«, sagte Smolski schließlich.
»Weshalb? Er ist doch tot«, wandte Jule ein. »Was bringt das noch?«
»Er hat seine Opfer über einen längeren Zeitraum irgendwo festgehalten. An einem Ort, an dem er sich sicher fühlte. Meine Hamburger Kollegen prüfen schon für mich, ob er sich irgendwo regelmäßig ein Ferienhäuschen angemietet hat oder so. Ich tippe allerdings eher darauf, dass sein Folterversteck in der Nähe von Odisworth zu suchen ist.«
»Sie weichen mir aus.« Jule erwiderte trotzig seinen prüfenden Blick. »Warum wollen Sie dieses Versteck unbedingt finden?«
Smolski ließ die Frage unbeantwortet, und in Jule keimte ein erschreckender Gedanke.
133
Hatte er sie vergessen?
Sie hatte ihn lange nicht mehr gesehen. Zumindest kam es ihr lange vor, seit sie zum letzten Mal aufgewacht war und er mit seinem Handspiegel über ihr stand, um ihr zu zeigen, wie er ihr Gesicht geschminkt hatte.
Wenigstens fror sie
Weitere Kostenlose Bücher