Der Wind bringt den Tod
in Ordnung gewesen. Jule hätte einiges dafür gegeben, die Zeit zu diesem Abend zurückzudrehen. Allerdings nur dann, wenn sie das Wissen und die Erfahrungen hätte behalten können, die sie in der Zwischenzeit gesammelt hatte. Jule sprang von der Couch auf und schlug die Hände vor den Mund. Das Tarot. Eine der Karten, die Caro gezogen hatte, war der Gehängte gewesen – und sie hatte heute einen Gehängten gesehen.
Ihr Telefon klingelte schrill in die atemlose Stille hinein. Jule drückte auf den grünen Knopf, um das Gespräch anzunehmen, ohne dabei auf das Display zu schauen. Jede Ablenkung war ihr recht.
»Ja?«
»Hallo, Jule. Lothar Seger hier. Ich würde mich gern mit Ihnen treffen.« Er sprach entgegen seiner sonstigen Art schnell und ohne Pausen. »Könnten Sie gleich heute Abend noch in meiner Praxis vorbeikommen? Ich würde mich gern mit Ihnen über Kirsten Küver unterhalten.«
135
»Lassen wir uns so schnell unterkriegen, mein Bester?«, fragte Hans-Hermann Mangels seinen Hund.
Bismarck hatte diese Frage an diesem Donnerstagabend schon viele, viele Male gehört, aber wie jedes Mal schaute er zu seinem Herrchen hoch und wedelte artig mit dem Schwanz.
»Ganz recht, so schnell lassen wir zwei alte Haudegen uns nicht die Butter vom Brot nehmen«, sagte Mangels. »Da müssen noch ganz andere kommen.«
Er dachte kurz an Ute Jannsen. Hatte er es ihr nicht gleich gesagt? Immerhin hatte die Frau Pastorin so viel Rückgrat bewiesen, ihn in der Sache mit der illegalen Grabstätte von Margarete Fehrs zu decken. Recht so. Das wäre ja auch noch schöner gewesen, ihm jetzt alles in die Schuhe zu schieben. Zum Glück hatte Ute gerade noch zum richtigen Zeitpunkt erkannt, auf welchen beiden Prinzipien das gesunde Miteinander hier in Odisworth fußte: nämlich zu wissen, wann man was zu wem sagte, und zu erkennen, wann man besser einfach mal den Mund hielt.
Forschen Schritts bog Mangels von der Hauptstraße ab und steuerte schnurstracks auf den Hof von Ingo Schütt zu. Er klemmte sich den dicken Aktenordner, mit dem er unterwegs war, unter den Arm und klingelte.
Schütts Eulenaugen wurden hinter seiner dicken Brille noch größer, als er die Tür öffnete und sah, wer da vor ihm stand.
»Ah, Ingo«, sagte Mangels. »Schön, dass du da bist.«
»Ist das der Mangels?«, röhrte Lars Eggers in seinem unverkennbaren Organ von irgendwo aus dem Haus. Wahrscheinlich saß er am Esstisch und schüttete einen Cola-Rum nach dem anderen in sich hinein.
»Niemand sonst«, rief Mangels über Schütts Schulter hinweg. Er grinste zufrieden in sich hinein. Das sah doch alles danach aus, als ob er hier gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte. »Habt ihr auch ein Gläschen für mich?«, fragte er Schütt.
Schütt zeigte auf den Ordner. »Was ist das denn?«
»Das hier, guter Mann«, sagte Mangels und klopfte gegen den Aktendeckel, »das hier ist unsere Zukunft.«
136
In Segers Therapiezimmer brannte nur die Schreibtischlampe. Ihr sanftes Leuchten spiegelte sich auf dem dunklen Holz der Tischplatte. Der Rest des Raums lag in einem diffusen Zwielicht. Es hauchte dem ausgestopften Fuchs auf beunruhigende Weise Leben ein, als würde das Tier jeden Augenblick den Sprung durchführen, zu dem es vor langer Zeit dank der Hände eines kundigen Präparators angesetzt hatte.
»Darf ich fragen, woher der plötzliche Sinneswandel kommt? Vor ein paar Tagen haben Sie noch darauf gepocht, mir kein Wort über Kirsten Küver verraten zu können, ohne dabei gegen Ihre Schweigepflicht zu verstoßen.«
»Richtig.« Es mochte an der spärlichen Beleuchtung und an seinem schwarzen Hemd liegen, doch für einen Moment hatte Jule das Gefühl, sich nur mit einem geisterhaften Schädel zu unterhalten, der frei vor ihr in der Luft schwebte. »Aber ich lese auch die Zeitung. Ich wusste ja, was in Odisworth passiert. Ich hatte sogar Besuch von dem Kommissar, den Sie erwähnten, als ich mich das letzte Mal bei Ihnen gemeldet habe.«
»Gabriel Smolski.« Der Gedanke, dass Smolski erst vor Kurzem hier gewesen war und auf demselben Stuhl wie sie gesessen hatte, verlieh Jule ein Gefühl der Sicherheit.
»Genau. Smolski hat sich bei mir nach Kirsten erkundigt. Für die Polizei war es kein Geheimnis, dass sie bei mir in Behandlung war. Außerdem …« Er zögerte, als hätte er Mühe, eine passende Formulierung zu finden. »Unsere gemeinsame Freundin Caro würde es wahrscheinlich sehr zu schätzen wissen, wenn wir beide unsere
Weitere Kostenlose Bücher