Der Wind bringt den Tod
kleinen Differenzen bereinigen.«
Er beugte sich zur Seite, um eine Schublade aufzuziehen. Er entnahm ihr einen Gegenstand, wie ihn Jule seit Jahren nicht mehr gesehen hatte: ein silbergraues Diktiergerät von der ungefähren Größe einer Zigarettenschachtel. Er drückte einen Knopf an der Oberseite, und das Display wurde hell. »Was ich nun tue, verstößt eindeutig gegen meine Schweigepflicht. Ich hoffe, das ist Ihnen klar, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie darüber kein Wort verlieren.«
Jule nickte. »Was ist mit Ihren Händen passiert?«
»Ein Unfall. Nichts Dramatisches.« Seger betrachtete das Diktiergerät wie ein alter Boxer seine an den Nagel gehängten Handschuhe. Dann setzte er eine Lesebrille auf und suchte mithilfe eines winzigen Steuerkreuzes nach einer bestimmten Datei. »Kirsten Küver kam zu einer Zeit zu mir, als ich mit der Idee spielte, irgendwann einmal ein Buch mit meinen interessantesten Fällen zu schreiben. Sie hat mir erlaubt, unsere Gespräche aufzuzeichnen, nachdem ich ihr versichert hatte, dass ihre Anonymität auch bei einer Veröffentlichung hundertprozentig gewahrt bleiben würde. Der erste Ausschnitt aus einer dieser Aufzeichnungen, den ich Ihnen gleich vorspiele, stammt aus einer Therapiephase, als Kirsten schon einige Zeit meine Patientin war. Wir hatten gute Fortschritte erzielt –«
»Warum hat sie sich eigentlich an Sie gewandt?«, unterbrach ihn Jule.
»Sie war ein echtes Kind vom Land und mit dem Umzug in die Stadt überfordert. Mit den vielen fremden Menschen um sie herum. Mit der Hektik. Mit dem Leistungsdruck im Beruf. Sie litt unter den ersten Anzeichen einer sozialen Phobie«, umriss Seger Kirstens Problematik. »Sie empfand starke Gefühle des Ausgeliefertseins und der Unzulänglichkeit, wenn sie sich in neuen Gruppen zurechtzufinden hatte. Heftige emotionale Reaktionen, die sich körperlich zu äußern begannen: Erröten, Atemnot, Schweißausbrüche. Sie hielt sich generell für unfähig, eigene Entscheidungen zu treffen, die den Erwartungen und Ansprüchen anderer gerecht wurden.« Seger lächelte bitter. »Sie war in dieser Hinsicht alles andere als einzigartig. Höchstens insofern, als dass sie gewissermaßen ein Musterbeispiel darstellte. Anfangs war die Therapie fast ein Spaziergang, oder zumindest habe ich das in meiner Selbstgefälligkeit so beurteilt. Sie war zweifelsohne bereits auf dem Weg der Besserung. Wir hatten ein ausgezeichnetes Vertrauensverhältnis zueinander aufgebaut. Dann wurde sie mit einem Mal wieder verschlossener. Es war etwas passiert. Sie brauchte ein halbes Dutzend Sitzungen, bis sie mir verriet, was es war. Sie war jemandem wiederbegegnet. Jemandem aus ihrer alten Heimat. Und sie ging eine sexuelle Beziehung mit ihm ein.«
»Hat sie Ihnen gesagt, wie dieser Mann hieß?«, fragte Jule und rechnete als Antwort fest mit einem ganz bestimmten Namen: Andreas Bertram.
»Nein«, verblüffte sie Seger.
»Warum nicht?«
»Das werden Sie gleich verstehen«, entgegnete er und spielte die erste Aufzeichnung ab.
»Ich würde gern etwas mehr über Ihren Freund erfahren.«
»Den Gefallen kann ich Ihnen nicht tun. Es passt ihm nämlich ganz und gar nicht, dass ich zu Ihnen komme. Er wollte, dass ich ihm verspreche, nichts über ihn zu erzählen.«
»Was vermuten Sie, warum er Ihnen so ein Versprechen abgenommen hat?«
»Ich denke, er schämt sich.«
»Gibt es aus Ihrer Perspektive etwas, wofür er sich ernsthaft schämen müsste?«
»Er hat wahrscheinlich Angst, Sie sagen mir, er würde mich zu sehr einengen.«
»Tut er das denn?«
»Na ja, also er erhebt schon wahnsinnige Besitzansprüche auf mich. Zum Beispiel … zum Beispiel … Er mag es nicht, wenn ich mit anderen Männern flirte, zum Beispiel. Oder wenn ich Überstunden mache und außer mir nur noch männliche Kollegen im Büro sind. Solche Dinge halt. Er hat da seine bestimmten Regeln. Aber solange ich mich an die halte, läuft alles komplett reibungslos. Dann ist er der aufmerksamste Mensch, den man sich vorstellen kann.«
»Gefällt Ihnen das? Es ist nichts Schlimmes, wenn Sie sich daran nicht stören. Meiner Erfahrung nach läuft es in der Mehrheit aller Beziehungen so, dass eine der beiden Seiten den etwas dominanteren Part ausfüllt. Das kann auch sehr oft auf einer eher unterschwelligen Ebene angesiedelt sein, in die man als Außenstehender keinen Einblick hat. Daran gibt es auch nichts auszusetzen, solange das beide nicht grundlegend stört.«
»Meistens
Weitere Kostenlose Bücher