Der Wind bringt den Tod
stört es mich nicht.«
»Das klingt, als ob da noch ein Aber käme.«
»Es stört mich … es stört mich, wenn wir … beim Sex.«
»Inwiefern? Verlangt er Praktiken, die Ihnen nicht gefallen?«
»Nein. Nein, eigentlich nicht. Er möchte nur immer, dass ich ganz still daliege und mich nicht bewege. Jedes Mal.«
»Während des gesamten Aktes? Auch während der Penetration?«
»Es kommt nie zu einer Penetration. Er sieht mich nur an … und … und masturbiert dabei.«
»Und danach?«
»Was?«
»Wie befriedigt er Sie? Oral? Mit den Fingern? Mit einem Spielzeug?«
»Gar nicht. Er sieht mir allerhöchstens ab und an einmal dabei zu, wie ich mich selbst befriedige. Aber ich habe den Eindruck, dass ihn das nicht wirklich anmacht, weil ich mich dann ja bewege. Dass er mir das nur zum Gefallen tut, anstatt dass es ihn irgendwie erregt.«
»Haben Sie darüber mit ihm gesprochen?«
»Ja. Klar. Mehrfach. Er sagt dann immer, dass er mich über alles liebt und dass es ihm fürchterlich leid tut, dass er mir das nicht geben kann, was ich von ihm erwarte. Manchmal wird er dabei ganz traurig. Er weint dann. Und manchmal … manchmal ist er auch schon richtig zornig deswegen geworden und hat angefangen, mich zu beschimpfen. Ob er mir nicht gut genug wäre. Ob … ob es mir lieber wäre, wenn er mich behandeln würde wie eine billige Nutte.«
»Lieben Sie ihn auch?«
»Ja. Ja, ich glaube schon.«
Die letzten Worte der toten Frau, die durch das Diktiergerät zu ihr sprach, ließen Jule frösteln.
»Ich konnte noch einige weitere Einzelheiten erfahren«, sagte Seger düster. »Für Kirstens namenlosen Partner bestand ein großer Reiz darin, sie in immer neuer Kleidung reglos daliegen zu sehen. Er kaufte ihr regelmäßig neue Sachen – Schuhe, Reizwäsche, Jogginganzüge, sogar einen durchsichtigen Regenmantel. Und er hat sie vor jedem Akt gebeten, sie schminken zu dürfen.«
Jule kniff die Lippen zusammen. Ob Kirsten je geahnt hatte, dass Andreas Medikamente gegen seine depressiven und psychotischen Schübe nahm? Oder hatte er erst die Hilfe eines Psychiaters in Anspruch genommen, nachdem seine Fantasien zum ersten Mal außer Kontrolle geraten waren?
»Bei Kirstens Partner lag ohne jede Frage eine Paraphilie vor«, stellte Seger fest. »Sexuelle Bedürfnisse, die von einer ohnehin schwer zu definierenden Norm abweichen, kommen relativ häufig vor.«
»Was haben Sie Kirsten geraten?«, wollte Jule wissen. »Sie haben das alles doch nicht unkommentiert gelassen, oder?«
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Seger. »Ich möchte allerdings festhalten, dass solche Paraphilien eine Beziehung nicht immer zwingend belasten. Wenn beide Partner einen harmonischen, offenen Umgang miteinander finden, stellen sie kein nennenswertes Problem dar. Bei Kirsten war das nicht der Fall. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um ihr zu vermitteln, dass ihr Partner sich ihr gegenüber egoistisch verhält und sie im Grunde nur als Mittel zum Zweck benutzt. Dass sie ihre Wünsche den seinen völlig unterordnet, obwohl sie das eigentlich nicht möchte und darunter leidet. Der Umstand, dass dieser Mann eine sehr hohe Anziehungskraft auf sie ausübte, hat das natürlich immens erschwert.«
»Deshalb haben Sie mich damals mitten in der Nacht angerufen«, meinte Jule. Ein Teil der alten Zuneigung und des Respekts, die sie für Seger immer empfunden hatte, blühte in ihr auf. »Sie hatten Angst um mich. Angst, dass ich diesem Mann über den Weg laufen könnte. Das war völlig unbegründet. Er war überhaupt nicht mein Typ.«
»Das mag sein. Aber Sie waren seiner. Sie sehen ihr so verdammt ähnlich …«
Seger drückte den Abspielknopf des Diktiergeräts.
»Haben Sie schon einmal länger darüber nachgedacht, ihn zu verlassen?«
»Ja.«
»Glauben Sie, dass es Ihnen besser ginge, wenn Sie ihn verlassen würden?«
»Vielleicht. Aber ich kann ihn nicht verlassen. Das geht einfach nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil dann etwas Schlimmes passieren könnte.«
»Wie meinen Sie das? Bedroht er Sie?«
»Nein. Er sagt nur, dass er ohne mich nicht leben kann. Und das stimmt. Ohne mich … wäre er ganz allein.«
»Also droht er Ihnen doch. Mit psychischer Gewalt. Er versucht, Ihnen Schuldgefühle einzureden, um Sie an sich zu binden. Oder sehe ich das etwa falsch?«
»Er braucht mich. Er braucht mich wirklich. Ich kenne ihn besser als jeder andere Mensch. Ich weiß, wie er denkt. Ich kenne all seine Geheimnisse. Er würde nie wieder jemanden
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