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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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seit zwei Tagen tot. Seit Dienstag. Seit wir die beiden neuen Leichen auf Erich Fehrs’ Grundstück gefunden haben. Die Spurensicherer sagen, er hat den Haken, an dem er sich erhängt hat, auch genau dafür erst in die Decke gebohrt. Das mit der Dose und den Wunden an den Armen war nur … Sagen wir es so: An den Schnittverletzungen, die er sich zugefügt hat, wäre er nicht gestorben.« Er griff in seine Jackentasche, holte ein zusammengefaltetes Stück Papier hervor, glättete es und schob es über den Tisch zu ihr. »Hier.«
    »Was ist das?«
    »Eine Abschrift von seiner Abschiedsbotschaft auf dem Block im Wohnzimmer.«
    Jule senkte den Kopf und begann zu lesen.
    Es ist so weit. Ich muss aufhören. Es geht nicht mehr.
    Für Kirsten ist es zu spät. Sie wäre noch da, wenn ich früher den Mut gehabt hätte, das zu tun, was ich zu tun habe. Nicht bloß Kirsten. Die anderen auch.
    Aber es war eben ein Geheimnis, und Geheimnisse bricht man nicht. Wir hatten doch nur uns. Niemanden sonst. Gar niemanden.
    Und ich dachte doch die ganze Zeit, dass es ein richtiges Geheimnis war. Das ist nämlich das größte Geheimnis überhaupt: Es gibt richtige und falsche Geheimnisse. Richtige Geheimnisse sind die, die keinem wehtun, der es nicht irgendwie verdient hätte. Was ich vergessen habe, ist, dass es einem selbst wehtun kann, wenn man ein richtiges Geheimnis für sich behält.
    Macht das Sinn?
    Es kann sowieso nichts Sinn machen. Etwas kann Sinn haben, Sinn stiften, Sinn verleihen, aber nichts kann Sinn machen. Das Warum dabei habe ich nie verstanden.
    Manchmal träume ich noch von der Nacht, in der das Geheimnis geboren wurde. Ich habe nicht geweint, obwohl es so ein großes, so ein schlimmes Geheimnis, so ein richtiges Geheimnis gewesen ist. Ich wollte nicht, dass sie mich weinen sieht.
    Wenn es einen Weg gegeben hätte, das Geheimnis zu brechen, ohne es zu brechen, hätte ich es gebrochen. Aber ohne Freunde ist man kein Mensch mehr, und ich bin nicht einmal mehr mein eigener Freund.
    Ich bin wie eine Puppe. Wenn man mich aufschneidet, bin ich hohl. Ich lasse mich verbiegen und verdrehen. Ich lache, weil man nur geliebt wird, wenn man lacht. Ich lasse mich zum Spielzeug machen, weil ich geliebt werden will. Aber ich bin nicht das richtige Modell. Ich bin eine Fehlproduktion. Ich gehöre auf den Müll. Jeder einzelne Gedanke, den ich habe, ist nicht mein eigener. Es sind nur Gedanken, die ich nachdenke. Jedes einzelne Wort, das ich habe, ist nicht mein eigenes. Es sind nur Worte, die ich nachplappere. Selbst das Geheimnis gehört mir nicht, sondern dem, der es als Erstes gedacht und gesagt hat.
    Sogar mein Schmerz gehört mir nicht. Jeder Schmerz, den ich empfinde, hat ein anderer schon lange vor mir gehabt. Deshalb baut man ja auch Puppen, die weinen können. Damit wir uns daran erinnern, dass der Schmerz nicht uns gehört.
    Jule faltete das Blatt Papier wieder zusammen. Sie fragte sich, ob es falsch war, von den Sätzen, die sie gerade gelesen hatte, berührt zu werden. Und sie fragte sich, wie viele Menschen da draußen durch die Welt gingen, die Masken trugen, wie Andreas eine getragen hatte. Masken, wie sie selbst eine getragen hatte. Menschen, die glaubten, etwas in und an ihnen – ein winziger Riss in der Seele, durch den sie sich Stück für Stück selbst verloren – sei so fundamental und grauenerregend anders, dass sie es nicht verdient hätten, jemals glücklich zu werden. »Er war der Mörder«, sagte sie schließlich, weil sie ahnte, dass es keine Antwort auf diese Frage gab.
    »Es sieht alles danach aus.« Smolski nickte. »Wir haben im weitesten Sinne so etwas wie ein Motiv, obwohl ich den Begriff in diesem Fall sehr schwierig finde. Andreas Bertram war krank, und ich werde noch Gutachten darüber einholen, inwiefern jemand mit seinem Krankheitsbild als zurechnungsfähig gegolten hätte. Wir müssen darüber auch noch mit seinen behandelnden Ärzten sprechen. Ansonsten …« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir haben diesen Abschiedsbrief, der nun das einzige Geständnis bleibt, das wir je bekommen werden. Er hat wohl geahnt, dass wir ihn nach den letzten Leichenfunden eher früher als später aufspüren würden. Er hat selbst Schluss gemacht. Und er wollte, dass Sie ihn finden. Vielleicht weil er Ihnen damit zeigen wollte, dass sich ein Teil von ihm dagegen wehrte, was er mit Ihnen vorhatte. Vielleicht hat er Sie deshalb auch mit der Puppe warnen wollen.«
    »Er hat Kirsten umgebracht«,

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