Der Wind bringt den Tod
haben die Puppe in den Garten geschmissen und sind losgelaufen, mit dem Handy am Ohr.«
»Hast du mich etwa beobachtet?«, fragte Jule.
»Ja«, gestand Jonas. »Sonst wäre es doch nicht lustig gewesen.«
»Lass mich raten«, sagte Jule. Ihr Stolz darüber, die Situation mit der Puppe ganz zu Anfang einigermaßen richtig eingeschätzt zu haben, hielt sich in Grenzen. Warum nur war sie später dazu übergegangen, in dieser Sache nicht weiter auf ihren gesunden Menschenverstand zu bauen? »Du hast mich weggehen sehen und hast anschließend die Puppe wieder eingesammelt, weil du dachtest, ich würde die Polizei rufen. Stimmt’s?«
»Stimmt.« Jonas rutschte auf seinem Sitz hin und her. »Aber es tut mir wirklich total leid.«
Da war noch etwas, das Jule loswerden musste. Etwas Wichtiges, das sie zu Jonas sagen konnte. Etwas, das sie einem anderen Menschen vor vielen Jahren nicht mehr hatte sagen können. »Mir tut auch was leid. Ganz schrecklich sogar. Unser Unfall. Das war keine Absicht. Wenn ich es könnte, würde ich dafür sorgen, dass er nie passiert wäre.«
Jonas musterte sie einen Augenblick. »Sie sind nett«, meinte er schließlich. »Das mit der Puppe war total kacke von mir. Ich hab mich nur so geärgert. Wegen meinem Fahrrad. Es war ein Geschenk von meinem Vater, wissen Sie? Und es gab doch so viele Leute, die wollten, dass Sie aus dem Dorf abhauen. Da dachte ich –« Sein Arm zuckte nach oben. »Halt! Da müssen wir rein.«
Jule bremste scharf ab. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Jonas hatte sie zielstrebig zu einem Ort geführt, den sie ansonsten für den Rest ihres Lebens gemieden hätte: zu dem Weg durch das kleine Waldstück, in dem sie an ihrem ersten Abend in Odisworth eine unheimliche Begegnung mit einer düsteren Gestalt gehabt hatte.
143
Jules schlimmste Befürchtung bewahrheitete sich zum Glück nicht. Jonas hatte die Puppen nicht in dem ausgebrannten Gehöft gefunden. Nach rund hundert Metern auf dem Waldweg bat er sie, anzuhalten. Sie stiegen aus und gingen eine Weile durch das Unterholz. Da die Sonne bereits tief am Himmel stand, hatte zwischen den Bäumen schon ein dämmeriges Licht Einzug gehalten. Mehr als einmal spielten Jules überreizte Sinne ihr einen makabren Streich: Sie hätte schwören können, dass sie von einem großen Mann in einer dunklen Jacke verfolgt wurde, der sich jedes Mal, wenn sie sich nach ihm umdrehte, gerade noch rechtzeitig hinter einem der breiteren Stämme versteckte.
Sie atmete erleichtert auf, als Jonas schließlich vor einer uralten Buche stehen blieb. »Hier ist es.«
»Hier?« Sie schaute sich um und sah außer den Bäumen, hinter denen ihr Trugbild lauerte, nur Gras, Farn und einen Strauch mit dürren Zweigen. Hatte Jonas sie doch angeflunkert? Dieses Gebiet war doch laut Smolski von der Polizei durchkämmt worden. Es war für sie völlig unvorstellbar, dass dabei ausgerechnet ein Haufen verstümmelter Puppen übersehen worden war.
»Da oben. In einem Astloch.« Jonas zeigte den Baum hinauf. »Ich hol sie.«
Mit geschickten Bewegungen kletterte der Junge an dem Stamm, der einen Durchmesser von gut anderthalb Metern hatte, in die Höhe. Sie verlor ihn im Gewirr aus Ästen und Laub einen Moment aus dem Blick.
»Jonas?«, rief sie besorgt.
Sie hörte ihn keuchen, dann ein Schaben und ein »Vorsicht!«. Ein schwarzer Schemen fiel vom Baum. Er prallte raschelnd gegen einige größere Äste, schrammte am Stamm entlang und landete keine zwei Schritte von Jule entfernt auf den Wurzeln der Buche. Sie erkannte ihn als eine große Reisetasche aus dunkelblauem Kunststoff.
Jonas kletterte ebenso schnell vom Baum herunter, wie er zuvor hinaufgeklettert war. »Sehen Sie.« Ohne Umschweife hockte er sich neben die Tasche und zog den Reißverschluss auf. Er weitete die Öffnung mit beiden Händen und griff vorsichtig hinein. »Da sind die Puppen.«
Es waren Dutzende. In allen Haar- und Hautfarben. Nicht alle waren nackt. Einige trugen Badeanzüge oder Prinzessinnenkleider, Trainingsjacken oder Arztkittel, Skioveralls oder Bikinis. Zwei Dinge hatten sie jedoch alle gemein: Ihre Gliedmaßen waren mit Nadeln in festen Posen fixiert, und keine von ihnen war unversehrt. Manchen waren die Augen ausgestochen, anderen die Finger oder die Füße abgeschnitten, und bei allen, wie Jule nach näherem Hinsehen feststellte, waren die Brüste verunstaltet. Sie blickte sich gehetzt um, um sich zu vergewissern, dass der große Mann in der
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