Der Wind bringt den Tod
die Waschmaschine gesteckt hatte. Bei näherer Überlegung kam Jule dieses Szenario als Ursache für den Geruch gar nicht mehr so unwahrscheinlich vor: Sie hätte nämlich nicht die Hand dafür ins Feuer gelegt, dass Andreas nicht tatsächlich eine alte Sporttasche ein paar Tage durch die Gegend kutschiert hatte. Er galt unter seinen Kollegen nicht umsonst als faul, und vergesslich war er noch dazu.
Jule beeilte sich, ihr Rollköfferchen aus dem Kofferraum zu holen und den Deckel wieder zuzuschlagen. Sie zog den Griff an den dünnen Metallstreben bis zur zweiten Stufe heraus und ging los, weg vom Ort ihres unerwarteten Scheiterns und hinein ins nächtliche Odisworth.
19
Odisworth glich einer Geisterstadt. Wie ein dicker Wurm erstreckte sich das Dorf entlang einer gewundenen Hauptstraße, von der es in zwei Hälften geteilt wurde. Nur hier und da brannte Licht in einem Fenster der Häuser, die Jules Weg säumten. Sie fand das nicht weiter verwunderlich, denn die Bewohner hatten sich ja in der Sporthalle versammelt. Sie ging davon aus, dass hauptsächlich Mütter von kleinen Kindern und alte Leute daheimgeblieben waren. Für alle anderen war ihr Vortrag sicher eine willkommene Abwechslung von der sonstigen Abendgestaltung gewesen, die wahrscheinlich in erster Linie aus Fernsehen bestand.
Von den stillen Bauten ging eine Trostlosigkeit aus, die dadurch noch verstärkt wurde, dass die Straßenlaternen weit auseinanderstanden. Verlorene Inseln des Lichts in einem Meer aus Dunkelheit. Ihr ohnehin spärliches Leuchten wurde von den gewaltigen Mückenschwärmen gedämpft, die jede Einzelne von ihnen anzog und die sie wie schwirrende Wolken umkreisten. Das Klacken ihrer Absätze auf dem Bürgersteig kam Jule in der schweigenden Finsternis überlaut vor. Das Pflaster war holprig, und mehrfach musste sie dort, wo der Winter seine eisigen Klauen in den Boden getrieben hatte, tiefen Schlaglöchern ausweichen, um die Rollen ihres Köfferchens zu schonen.
In einer Hecke, die die Grenze zwischen zwei Grundstücken markierte, raschelte es leise. Jule begann, sich zu fragen, ob ihr kleiner Fußmarsch eine gute Idee gewesen war. Schließlich trieb hier irgendwo ein Mörder sein Unwesen. Sie hatte genügend Krimis gelesen, um zu wissen, dass es definitiv ein Gewaltverbrechen gegeben hatte, wenn ein Ordnungshüter sich vor die Öffentlichkeit stellte und darauf hinwies, dass er und seine Kollegen möglicherweise von einem Gewaltverbrechen ausgingen. Die junge Frau, die man gefunden hatte, war umgebracht worden – vielleicht sogar von jemandem, der Jule jetzt aus der sicheren Deckung dieser Hecke oder von hinter einem der dunklen Fenster aus in genau jenem Moment beobachtete. Und vielleicht wägte er in exakt diesem Augenblick ab, ob er erneut zuschlagen und sich diese Fremde holen sollte, die durch die leere Nacht ging und die so schnell niemand vermissen würde.
Jule atmete tief durch, straffte die Schultern und ging weiter. So grausam konnte kein Schicksal sein, ihr am selben Tag erst einen Teilsieg über ihre Angst zu gestatten, nur um sie dann kurz danach einem Mörder zum Opfer fallen zu lassen. Vielleicht machte sie sich auch etwas vor, und das Schicksal fällte seine Entscheidungen nicht nach Gesichtspunkten wie Grausamkeit oder Fairness. Vielleicht stand es über all diesen Kategorien, die der Mensch für die Beurteilung seiner Existenz aufstellte.
Ein Auto rauschte von hinten an ihr vorbei, und Jules eben erst gewonnene Zuversicht geriet ins Wanken, als die Bremslichter aufleuchteten wie zwei große rote Augen. Der Fahrer des Wagens absolvierte ein zügiges Wendemanöver, die Reifen quietschten. Im Schritttempo rollte das Auto – eine geräumige Familienlimousine – auf sie zu.
Geblendet von den Scheinwerfern wandte Jule den Kopf zur Seite und hielt sich dicht am Vorgartenzaun des Hauses, an dem sie gerade vorüberging – bereit, sich mit einem Sprung in die Beete zu flüchten. Ihr Atem beschleunigte sich, und ihre Finger schlossen sich fester um den Griff ihres Koffers. Wer würde ihre Schreie hören, wenn der Fahrer sie zu sich ins Auto zerrte? Oder sie einfach auf offener Straße angriff? Der Wagen hielt an. Jule hörte das Surren eines elektrischen Fensterhebers.
»Hallo? Bitte nicht erschrecken«, ertönte eine dunkle Männerstimme aus dem Inneren des Autos. »Ich wollte mich nur noch mal bei Ihnen für die Störung entschuldigen.«
Jule blieb stehen. Sie kannte diese dunkle Stimme. Vorsichtig drehte
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