Der Wind bringt den Tod
kann selbstverständlich sein, dass er sie vorher betäubt hatte, und dann …« Er zuckte die Schultern. »Dann kann man so einiges mit einem Menschen anstellen.«
Während Grüner in der Hocke einen Schritt in Richtung des Kopfs der Leiche machte, steckte Hoogens die Hände in die Hosentaschen und ballte sie zu Fäusten. Er wusste nicht, wohin mit seiner Wut. Er fragte sich, wohin er sie lenken würde, sobald er dem kranken Wichser gegenüberstand, der diese arme Frau massakriert hatte. Er konnte nur hoffen, dass der Pole dabei sein würde, um ihn zu bremsen.
»Er hat sich vermutlich viel Zeit mit ihr gelassen«, setzte Grüner seine Erläuterungen fort. »Das Metall an ihrer Braue ist kein Piercing, wie man denken könnte.«
»Was ist es dann?«, fragte Hoogens und spürte, wie sich seine Fingernägel wie von selbst in seine Handballen gruben.
»Eine Klemme aus einem Industrietacker, würde ich mal sagen.«
»Also ein richtiger Irrer!« Hoogens schüttelte den Kopf. »Wie viel kommt da noch?«
Grüner schürzte die Lippen. »Wie gesagt, er hat sich viel Zeit mit ihr gelassen. Und das gefällt mir nicht. Überhaupt nicht. Was ich damit meine, ist –«
»Das war nicht sein erstes Mal«, beendete Hoogens Grüners erschreckenden Gedankengang.
18
An eine Fortsetzung der Präsentation war nach Smolskis Verkündigung nicht zu denken. Das Publikum war an einem Mord in unmittelbarer Nähe verständlicherweise mehr interessiert als am Bau eines Windparks. Es hätte auch nichts genutzt, darauf zu warten, bis Smolski seine Arbeit hier in der Turnhalle beendet hatte. Jule konnte sich keinen Einstieg in eine mögliche Wiederaufnahme ihres Vortrags vorstellen, der angesichts der über Odisworth hereingebrochenen Gewalt nicht geschmacklos gewirkt hätte. Was hätte sie sagen sollen: »Lassen Sie uns nach dieser höchst bedauerlichen Unterbrechung doch bitte wieder über die Vorteile erneuerbarer Energien sprechen.«?
Sie fuhr ihren Laptop herunter und trank ihr Wasser aus. Über den Rand des Glases hinweg beobachtete sie, wie der Kommissar – oder welchen Rang er auch immer bekleiden mochte – die Fragen der Menschen beantwortete. Einige der Odisworther waren bereits aufgestanden und nach vorn gekommen, um mit Smolski zu sprechen. Hauptsächlich handelte es sich um Frauen, deren Gesichter eine verblüffend ehrliche Mischung aus Betroffenheit und Neugier zeigten, aber es waren auch ein paar Männer darunter, deren Mienen noch versteinerter waren als zu Beginn von Jules Vortrag. Smolski verteilte eifrig Visitenkarten, als wäre er ein überdurchschnittlich erfolgreicher Handlungsreisender.
Wie die meisten der Anwesenden, die sich nicht von ihren Plätzen erhoben hatten, hatte Bürgermeister Mangels bereits sein Handy am Ohr, um die schlimme Kunde an all jene zu verbreiten, die der Veranstaltung in der Schulsporthalle ferngeblieben waren. Noch bevor Jule ihren Laptop eingepackt hatte, steckte er sein Telefon jedoch wieder weg und wandte sich an sie. »Ach, Frau Schwarz, das konnten wir ja nun nicht ahnen, dass uns so etwas Furchtbares dazwischenkommt. Bitte glauben Sie mir, wir holen Ihren Vortrag zum schnellstmöglichen Termin nach. Mein Ehrenwort.«
Mangels’ einäugiger Mischling schnappte die sonderbare Stimmung seines Herrchens auf und setzte zu einem gequälten Winseln an, das der Bürgermeister umgehend durch einen sanften Tritt in die Flanke des Hundes unterband.
Jule war ernsthaft versucht, sich neben ihrer Laptoptasche auch gleich noch das geschundene Tier unter den Arm zu klemmen und das Weite zu suchen, aber sie war Profi genug, dieser Versuchung standzuhalten. Sie winkte lächelnd ab und sagte: »Das ist doch nicht Ihre Schuld, Herr Mangels. So etwas fällt eindeutig unter höhere Gewalt.«
Mangels wirkte daraufhin erleichtert, wenn auch noch lange nicht entspannt. Zu Jules Überraschung legte er die gedrungene Stirn in Falten und eine warme Hand auf ihren Arm. »Geht es Ihnen gut?«
»Selbstverständlich. Warum fragen Sie?«
»Na ja, Sie sind ein bisschen blass um die Nasenspitze.«
Mangels’ Bemerkung rief Jule ins Gedächtnis, wie weich ihre Knie eben geworden waren, als Smolski die gefundene Frauenleiche beschrieben hatte. Aber es gab gar keinen Grund dafür, diesen makabren Zufall zu überbewerten. Sie war schließlich nicht die einzige große blonde Frau im fraglichen Alter in Norddeutschland, geschweige denn auch nur in dieser Gegend. Die Beschreibung hätte ebenso gut auf ein halbes
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