Der Wind bringt den Tod
Dutzend der jüngeren Dorfbewohnerinnen zugetroffen. Selbst auf ihre beste Freundin Caro hätte die Beschreibung genauso gut gepasst wie auf sie selbst. Es bestand nicht die geringste Veranlassung, länger darüber nachzudenken. Viel schlimmer war doch, dass sich das Windparkprojekt jetzt noch länger hinziehen würde. »Blass? Das muss die Aufregung sein«, beruhigte sie Mangels. »Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Geben Sie mir nur Bescheid, wann wir den nächsten Anlauf starten, damit meine bisher geleistete Überzeugungsarbeit nicht ganz umsonst war.«
»Das werde ich.« Erneut legte er die Hand auf ihren Arm. »Ich wünschte nur, ich könnte Ihnen schon genauer sagen, wann das sein wird.«
»Kann ich davon ausgehen, dass wenigstens unser Termin morgen früh noch steht?«, fragte Jule vorsichtig, da sie ahnte, dass sich die Aufregung im Dorf nicht so schnell legen würde.
»Unser Termin?«
»Der Termin, den Sie eigentlich mit Herrn Bertram vereinbart hatten. Das Treffen mit dem Gemeinderat«, erklärte Jule.
»Ah, der Termin von Andreas.« Mangels nickte, als er begriff, was Jule ihm sagen wollte. Dann kniff er misstrauisch die Augen zusammen. »Heißt das, dass Andreas morgen auch nicht da sein wird?«
»Richtig«, räumte Jule ein und fügte schnell hinzu: »Ich bin ab jetzt Ihre Ansprechpartnerin für dieses Projekt. Ich hoffe, das stellt kein Problem für Sie dar.«
»An und für sich nicht«, brachte Mangels mühsam hervor. »Es war nur schön, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der die Leute hier so gut kennt. Andreas ist ja ein Spross dieses Dorfes.«
»Verstehe.« Jule hatte ob all der Aufregung glatt vergessen, dass Andreas aus Odisworth stammte und aufgrund dieses Umstands bereits in die allerersten Planungskonferenzen für den Bau des Windparks an genau diesem Standort einbezogen worden war. Es hatte daher keinen Sinn, sich mit Mangels auf eine längere Diskussion einzulassen. Es stimmte: Andreas kannte die Leute hier gut. Aber immerhin galt auch umgekehrt, dass die Leute ihn gut kannten, und das war bei solchen Verhandlungen nicht immer von Vorteil. Insbesondere älteren Herren wie Mangels fiel es oft schwer, einen jungen Burschen ernst zu nehmen, den sie gemäß ihres eigenen Zeitempfindens erst letzte Woche noch beim Kirschenklauen erwischt hatten. »In Zukunft werden Sie mit mir vorliebnehmen müssen. Ich denke aber, dass Andreas den Boden für ein gutes Gelingen bereitet hat, nicht wahr, Herr Mangels?«
Mangels lächelte. »Unbedingt, unbedingt.«
Jule nickte freundlich. Sie wusste bereits in diesem Moment, dass sie vor der komplizierten Aufgabe stand, die von Andreas begangenen Fehler ausbügeln zu müssen, ohne dabei die Tonangeber der Dorfgemeinschaft zu sehr vor den Kopf zu stoßen. »Wir sehen uns dann morgen, ja?«
Sie schüttelte Mangels die schwielige Hand und sah zu, dass sie Land gewann. Keiner der Dörfler schenkte ihr auch nur einen einzigen Blick, als sie die Sporthalle durchquerte. Mit Smolski, um den sich nach wie vor die Leute scharten, konnte sie nicht konkurrieren.
Draußen vor der Schule atmete Jule erst einmal tief durch. Das war ein echter Misserfolg gewesen, aber es war nun einmal so, wie sie es Mangels gesagt hatte: Der vorzeitige Abbruch der Präsentation war einer höheren Gewalt geschuldet. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Nicht einmal Schwillmer mit all seiner Besserwisserei hätte von ihr erwarten können, sich darauf vorzubereiten, einen etwaigen Leichenfund und den spektakulären Auftritt eines Kriminalbeamten auf elegante Weise in ihr Vortragskonzept einzubinden. Bei dem albernen Gedanken musste Jule grinsen. Sie beschloss, ihr Auto stehen zu lassen und zu Fuß zu der kleinen Pension zu gehen, in der die Firma ein Zimmer für Andreas angemietet hatte, das jetzt für unbestimmte Zeit ihr Zimmer sein würde. Lothar Seger hätte zu diesem Verweigerungsverhalten sicher etwas zu sagen gehabt, aber erstens wusste er zum Glück nichts davon und zweitens hatte ihr Therapeut eigentlich keinen Grund, sich über sie zu beschweren: Schließlich war sie Auto gefahren. Die gesamte Strecke von Hamburg nach Odisworth. Ohne vor Angst komplett zu erstarren. Oder jemanden dabei umzubringen. Jule fand das eine beachtliche Leistung, die für heute reichte.
Sie ging zum Wagen und öffnete den Kofferraum. Als sie den Deckel hochklappte, wallte ihr ein unangenehmer Geruch entgegen. Er war scharf und stechend, wie von verschwitzten Joggingklamotten, die man nicht gleich in
Weitere Kostenlose Bücher