Der Wind bringt den Tod
Person, die keinerlei Rücksicht auf die Bedürfnisse und Gefühle anderer nimmt.«
Jule hatte im Zuge ihrer Arbeit viele Erfahrungen machen müssen, die ihr übel aufgestoßen waren. Eklige Annäherungsversuche, wüste Drohungen, gemeine subtile Unterstellungen.
Nichts hatte sie je so getroffen wie der Vorwurf, den diese Frau nun an sie richtete. Kalt. Rücksichtslos. Was wusste diese Dorfpastorin schon über sie? Nichts. Sie wusste nichts davon, wie sich Jule nach dem Unfall gequält hatte. Die Fragen, die ihr nicht mehr aus dem Kopf wollten. Ob die junge Frau auf dem Fahrrad gespürt hatte, wie ihr bei dem Zusammenprall das Genick brach. Ob sie sofort bewusstlos gewesen war, oder ob sie noch einen Moment hellwach im Schnee gelegen und die Kälte gefühlt hatte, ehe ihr zerschmetterter Körper aufgegeben hatte. Welche Musik sie wohl gemocht hatte und ob sie das Stück, das auf ihrem MP3-Player gelaufen war, als sie aus der Lücke zwischen den parkenden Autos hervorgeschossen kam, vielleicht mitgesummt hatte. Ob sie mit ihrem Job als Fahrradkurierin zufrieden war, oder ob sie insgeheim andere Karrierepläne geschmiedet hatte. Ob sie jemals hatte Kinder kriegen wollen. Wenn ja, mit welchem Typ Mann. All das und Abertausende weitere Fragen, auf die Jule keine Antwort kannte und nie eine Antwort erhalten würde, waren das fürchterliche Erbe eines Sekundenbruchteils der Unaufmerksamkeit, das Jule bis ans Ende ihrer Tage mit sich herumtragen würde. Eine Last, die Jule um ein Haar in einen Sumpf der Verzweiflung und des Wahnsinns hinabgezogen hätte. Und diese selbstgefällige Frau auf der anderen Seite des Tischs, die den Odisworthern jeden Sonntag Lügen über einen lieben Gott und einen Himmel erzählte, die es nicht gab, wagte es, ihr ernsthaft vorzuwerfen, sie wäre kalt und berechnend.
»Ute, bitte.« Mangels rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
Jule registrierte kaum, dass Mangels vom förmlichen »Frau Pastorin« zum vertraulicheren Vornamen gewechselt war, um Ute im Zaum zu halten. Es scherte Jule auch nicht weiter, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt war, der Pastorin vor Empörung nicht ihre Kaffeetasse hinzuschleudern.
»Ihnen und Ihrer Firma geht es um nichts anderes als Profit«, schaltete Ute einen Gang zurück.
»Das ist selbst in einer sozialen Marktwirtschaft noch kein Verbrechen«, erwiderte Jule bissig. »Ich nehme nicht an, dass Sie nur für Kost und Logis Ihren Pflichten als Seelsorgerin nachkommen, oder?«
Ute reagierte auf die Spitze, indem sie einen Tonfall wählte, der sich auch auf der Kanzel gut gemacht hätte. »Uns hier geht es hingegen immer erst um die Menschen.«
Jule erlaubte sich ein leises Schnauben. »Sie meinen, es geht Ihnen um Sie und Ihre sonderbaren Ansichten.«
»Nein. Mir liegen meine Nächsten am Herzen. Wir hier in Odisworth sorgen füreinander.« Sie zuckte die Schultern und suchte den Blickkontakt zu dem Mann direkt links von ihr. »Da hast du’s. Es ist genau so, wie ich es gesagt habe.«
»Was?«, schnappte Jule. Diese ständigen Andeutungen machten sie noch aggressiver.
»Ich war gegen diesen neuen Termin«, sagte Ute und verschränkte die Arme vor der Brust.
Mangels ächzte, öffnete den Mund, als wollte er etwas Wichtiges sagen, schwieg dann aber.
»Dürfte ich auch erfahren, weshalb? Weil Sie den Windpark sowieso nicht hier haben wollen?«, bohrte Jule weiter.
»Der Windpark kann meinetwegen kommen, sobald Sie es schaffen, meine Bedenken zu zerstreuen, und niemanden zu etwas zwingen.« Das war eine überraschende Eröffnung. »Was mich so an diesem Termin stört, ist, dass wir im Moment völlig andere Sorgen haben als Ihren Windpark. Bei uns ist ein Mord geschehen. Ein Mensch wurde umgebracht – in unserer Mitte –, und Sie tun, als wäre nichts geschehen. Sie kommen hierher und reden unwichtiges Zeug über irgendwelche Zukunftsperspektiven und Gewinnchancen. Obwohl wir erst vor wenigen Tagen erfahren mussten, dass es da jemanden gab, dem seine gesamte Zukunft und all seine Chancen geraubt wurden. Das treibt mir die Galle hoch, wenn ich Sie so da sitzen sehe. In Ihrem schicken Kostüm und den schönen neuen Schuhen. Mit Ihrer oberflächlichen, arroganten Art.«
In einem hatte Ute recht: Jule hatte bei diesem ganzen Gespräch wirklich noch kein einziges Mal an den Mord gedacht. Rechtfertigte das den Vorwurf, sie wäre emotionslos? Nein, nicht im Mindesten. Hatte sie sich nicht am Wochenende so sehr in die Rolle des Opfers
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