Der Wind bringt den Tod
habe, verstehe ich eines wirklich nicht: Ich sehe nicht, wo Ihre Bedenken bezüglich des Windparks eigentlich liegen.«
Zäh wie Schlacke wälzten sich die Sekunden voran. Im Besprechungszimmer war es so leise geworden, dass Jule meinte, das Ticken von Mangels’ Armbanduhr hören zu können. Aus. Vorbei. Sie hatte es zunichtegemacht. Das Projekt Baldursfeld war genauso tot wie dieses Gespräch.
43
Es war ausgerechnet die Pastorin, die dem tot geglaubten Projekt neues Leben einhauchte. »Das, was Sie uns gerade erzählt haben, haben wir von Andreas bestimmt schon tausendmal gehört.«
Jule nickte, halb erleichtert, weil sich die Frau endlich äußerte.
»Aber niemand hier redet jemals über die Risiken.« Die Pastorin warf einen vorwurfsvollen Blick in Richtung des Bürgermeisters.
»Gut.« Jule beugte sich vor und breitete in einer einladenden Geste die Arme aus. »Reden wir über die Risiken. Welche sollen das sein?«
Jule hätte der Pastorin kein besseres Stichwort geben können. Es war, als hätte sie mit einer Nadel mehrfach in einen prallen wassergefüllten Ballon hineingestochen, so heftig sprudelten die Vorwürfe aus der Frau heraus.
»Sie verkaufen uns diesen Windpark unter der Überschrift Umweltschutz, weil das gerade modern ist. Weil es dem Zeitgeist entspricht. Und weil Sie meinen, wir wären zu rückständig oder zu faul oder zu dumm, um auch eigenständig Informationen einzuholen. Darum verschweigen Sie uns auch einige Dinge. Dass die Flügel der Windräder flackernde Schatten auf den Boden werfen, die bei manchen Leuten nervöse Unruhezustände oder Migräne auslösen. Dass die Windräder Infraschall erzeugen, dessen Auswirkungen auf den menschlichen Körper noch lange nicht hinreichend erforscht sind. Dass Vögel in die Windräder hineinfliegen und von ihnen in Stücke gehackt werden. Dass Fledermäusen, die zu nah an die Luftverwirbelungen herankommen, wegen des entstehenden Unterdrucks die Lungen platzen.«
Diese Frau am anderen Ende des Tisches hatte sich tatsächlich informiert – wenn auch größtenteils bei unzuverlässigen technologiefeindlichen Quellen: Internetauftritten von kleinen Organisationen und Privatpersonen, die auch Angst vor Handys, Elektrosmog und dem vermeintlich nahenden Weltuntergang hatten. »Ich habe diese Punkte nicht angesprochen«, erklärte Jule sachlich, »weil ich der Ansicht war, man müsste darüber gar nicht erst diskutieren. Ich kenne die Argumente gegen Windräder sehr gut, glauben Sie mir, aber sie treffen in der Regel nicht zu.« Sie begann, die einzelnen Vorwürfe an den Fingern einer Hand abzuzählen, während sie sie zu entkräften versuchte. »Zum anderen«, schloss Jule ihre Gegenargumentation, »lässt es sich nie ganz verhindern, dass es zu Unfällen kommt, wenn Mensch und Natur sich begegnen. Würden Sie alle auf Ihre Autos verzichten wollen, nur weil die Gefahr besteht, dass Sie irgendwann ein Kaninchen oder eine Katze überfahren?« Sie geriet ins Stocken und griff nach der Kaffeetasse, um vom Zittern ihrer Finger abzulenken. Was redete sie da eigentlich? Hatte sie sich nicht vor ein paar Monaten noch gewünscht, sie könnte in der Zeit zurückreisen, um den Erfindern des Automobils höchstpersönlich davon zu berichten, wie viel Unheil ihre Schöpfung über die Welt bringen würde? Wie viele Menschenleben sie auf dem Gewissen hätten? Wie sie Jules eigenes Schicksal, eine andere Person auszulöschen, gleichsam vorherbestimmt hätten? Und jetzt saß sie hier, in diesem muffigen Zimmer bei diesen halsstarrigen Menschen, und machte Werbung für die Segnungen der modernen Technik. Das war verrückt.
»Seht ihr?« Die Pastorin machte ein Gesicht, als sähe sie all ihre Vorurteile bestätigt. »Ich habe doch von Anfang an gesagt, dass diese Frau nichts versteht.«
Die Männer links und rechts von ihr warfen einander düstere Blicke zu.
Jules Finger schlossen sich so fest um die Tasse, dass sie befürchtete, das Porzellan könnte unter dem Druck zerspringen. Sie begann langsam zu erahnen, warum Andreas so heilfroh darüber war, diesem Dorf entronnen zu sein. Die Atmosphäre aus unausgesprochenen Regeln und verschleierten Vorhaltungen stellte merkwürdige Dinge mit einem an. Sie zwang einen dazu, Gedanken zu denken, die man nicht denken wollte, und Dinge auszusprechen, die man lieber für sich behalten würde. »Was verstehe ich nicht? Was ist hier überhaupt los?«
»Ganz einfach, Frau Schwarz. Sie sind kalt. Eine eiskalte, berechnende
Weitere Kostenlose Bücher