Der Wind über den Klippen
zehn Uhr dunkel. Antti baute die Leinwand und den Diaprojektor auf. Dann verschwand er in der Küche.
»Ich hol mir einen Whisky zur Stärkung. Willst du auch einen?«
Seit dem Tod seines Segelfreundes Jukka vor fünf Jahren hatte er die Bilder sicher nicht mehr angeschaut. Wir hatten uns kennen gelernt, als ich nach Jukkas Mörder fahndete. Antti war einer der Verdächtigen gewesen, was mir inzwischen unbegreiflich vorkam.
»Einen kleinen Schluck, bitte.«
Er kam mit der ganzen Flasche an, und bevor ich merkte, was ich tat, hatte ich mir eine reichliche Portion eingeschenkt. Die Dias waren gerade so, wie ich sie mir vorgestellt hatte: Antti, zehn Jahre jünger und mit kurzen Haaren, stand neben dem braun gebrannten, weißblonden Jukka Grimassen schneidend vor einem Schild mit der Aufschrift »Militärisches Sperrgebiet, Zutritt verboten«, sie machten vor dem Leuchtturm Faxen und saßen mit einer Flasche billigem Rum auf den Klippen. Die Festungsgebäude sahen baufällig aus, die Insel wirkte schmud-delig.
»Jetzt kommen welche aus dem Sommer danach. O Gott, das ist schon zehn Jahre her!«
Nachdenklich betrachtete ich die fröhlichen Jungen auf den Urlaubsfotos und dachte an Jukka und Harri. Beide waren zu jung gestorben. Was hatte Harri in den vierunddreißig Jahren seines Lebens schon erlebt? Aber wie wollte ich beurteilen, ob sein Leben inhaltsreich gewesen war? Einen Nachtreiher zu beobachten hatte ihm vielleicht ebenso viel Befriedigung gegeben wie anderen Leuten ein Olympiasieg oder sechs Richtige im Lotto.
»Jetzt kommen Aufnahmen von der ›Astrid‹, allerdings nur ein paar, weil ich selbst keinen Fotoapparat dabeihatte. Guck mal, da klettert A. Sarkela auf den Mast.«
Der siebzehnjährige Antti wirkte eifrig und unschuldig. Auf dem nächsten Bild schrubbte er das Deck. Das letzte Foto zeigte die gesamte Crew des Schoners.
»Mikke Sjöberg steht in der letzten Reihe ganz links.«
Mikkes breit grinsendes Gesicht war von Pickeln übersät.
Offenbar hatte gerade jemand einen Witz erzählt, denn alle lachten.
»Wenn mir damals jemand gesagt hätte, ich wäre eines Tages mit einer Hauptkommissarin verheiratet, hätte ich ihn ausgelacht. Für Polizisten hatten wir nur Verachtung übrig.«
»Fang bloß nicht wieder damit an«, sagte ich und warf ihm ein Kissen an den Kopf. Auf der Rückfahrt von Rödskär hatte er mir mit der Frage zugesetzt, was ich täte, wenn er sich mit Iida zum Beispiel den Hausbesetzern anschließen würde, die gegen den Bau der neuen Schnellstraße protestierten. Würde ich zulassen, dass sie von meinen Kollegen unsanft in einen Einsatzwagen verfrachtet wurden?
»Von mir aus kannst du zehn Häuser besetzen, aber Iida lässt du bei einem Babysitter«, hatte ich geantwortet.
»Aber gerade wegen Iida will ich doch … Wenn alles so weitergeht wie bisher, ist ganz Espoo zubetoniert, bevor sie erwachsen ist. Es hilft überhaupt nichts, bei jeder Wahl für die Straßengegner zu stimmen«, seufzte er jetzt.
»Von mir darfst du keine Patentlösung erwarten!« Ich erstickte seinen gesellschaftspolitischen Protest mit einem Kuss, in den sich eine Spur von schlechtem Gewissen mischte. In der letzten Nacht hatte ich von Rödskär geträumt, doch der Mann, den ich im Traum geküsst hatte, war nicht Antti gewesen, auch nicht Harri, sondern ein Seebär mit sonnengebleichten Augenbrauen, dessen Atem nach Pfeifentabak roch.
Am Sonntag machten wir eine Fahrradtour am Meer. Der Blaualgenteppich, der in Matinkylä das Uferwasser bedeckt hatte, war von den Augustwinden aufgelöst worden, sodass Menschen und Hunde das kühle Nass wieder genießen konnten.
Auf dem Rückweg erblickte ich vor McDonald’s in Niittykum-pu zwei Polizeitransporter und eine Menschenansammlung, offenbar Demonstranten. Sofort erwachte mein berufliches Interesse.
»Was ist denn da los? Ich guck mal nach, bleib du hier, damit Iida nicht wach wird.«
Ich ließ Fahrrad und Helm an der benachbarten Esso-Tankstelle. Es schien sich tatsächlich um eine Demonstration zu handeln. Etwa dreißig junge Leute hatten die Autospur des Drive-in besetzt und das Restaurant umstellt. Auf ihren Transpa-renten stand unter anderem »Wer hier isst, zerstört den Regenwald. RdT – Revolution der Tiere« und »Fleisch essen ist Mord – Revolution der Tiere«. Die Demonstranten schwiegen, nur einer schlug eine afrikanische Trommel, deren Töne dumpf durch den Verkehrslärm drangen.
Zwei Doppelstreifen von unserer Dienststelle waren zur
Weitere Kostenlose Bücher