Der Wind über den Klippen
Selbstmord gab, worüber sie so erleichtert war, als habe sie sich ernsthaft Sorgen um Harris seelisches Gleichge-wicht gemacht. Das ließ mich stutzig werden, doch da Pertsa mir ungeduldig gegenübersaß, beendete ich das Gespräch. In seiner Anwesenheit über einen Fall zu sprechen, den er als Ermittlungsleiter zu den Akten gelegt hatte, wäre ein schlechter Auftakt für unsere Zusammenarbeit gewesen.
Unsere Sitzung zog sich in die Länge, denn Ström hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Er war seit vier Jahren geschieden, seine Kinder Jenna und Jani lebten bei ihrer Mutter und verbrachten nur jedes zweite Wochenende in Pertsas Einzimmerwohnung.
Nach der Besprechung war ich einigermaßen informiert über die aktuellen Fälle und Ströms bisherige Maßnahmen. Am vorigen Abend war es im Zentrum von Espoo zu einem Zusam-menstoß zwischen einer finnischen und einer somalischen Gang gekommen. Ich war mir geradezu wichtig vorgekommen, als ich Puupponen und Wang mit den Ermittlungen beauftragte. Es war bereits die dritte Rauferei zwischen den beiden Gruppen, wir mussten versuchen, den Konflikt zu beenden, bevor er eskalier-te. Wangs Worten hatte ich entnommen, dass Ström, der sämtliche Einwanderer verabscheute, für die finnische Gang Partei ergriffen hatte.
Trotz seiner vielen Vorurteile war Pertsa allerdings ein ausgesprochen scharfsichtiger Polizist. Auch wenn er bei der Beurteilung von Details mitunter schwer danebenlag, hatte er die Fälle meist im Griff. Nun schien er mir beweisen zu wollen, dass er das Dezernat besser geleitet hatte, als ich es je können würde, denn er erklärte mir jeden seiner Schritte in allen Einzelheiten. Je nach Stimmungslage hätte er es ebenso gut fertig gebracht, wichtige Informationen zurückzuhalten.
»Bist du mit dem Wagen da?«, fragte er, als wir nach der dritten Tasse Kaffee und seiner zehnten Zigarettenpause endlich Schluss machten.
Ich nickte.
»Kannst du mich an der Bahnstation absetzen? Ich will noch nach Helsinki.«
»Klar.« Ich betrachtete seine Bitte als eine Art Annäherungs-versuch, wie er sie in den überraschendsten Situationen unternahm.
»Was hast du denn in der Stadt vor?«, fragte ich, als wir aus der Tiefgarage fuhren.
»Hirvonen wartet im ›Planet Hollywood‹ auf mich. Erste Station unserer Sauftour«, erklärte er. Hirvonen, sein Zechbru-der, arbeitete bei uns im Labor. »Jetzt hab ich ja keine Verantwortung mehr und kann die Wochenenden locker nehmen. Und wie ist es bei euch, kümmert sich dein Alter um euren Balg oder wer?«
»Sie heißt Iida, wie du sehr wohl weißt. Iida Viktoria. Ich hab sie ein Jahr lang gehütet, und jetzt ist Antti an der Reihe.«
»So. Na, dass eine Emanze wie du keinen Jungen zur Welt bringt, hab ich vorher schon gewusst.«
»Schnauze, oder du kannst zu Fuß gehen«, sagte ich, ohne wirklich wütend zu sein. Pertsas Frotzelei über meinen Femi-nismus gab mir das Recht, meinerseits sexistische Kommentare von mir zu geben, zum Beispiel über den Körperbau männlicher Sportler. Dass er sich über Anttis Entschluss, Erziehungsurlaub zu nehmen, lustig machte, überraschte mich nicht, darüber hatten sich auch meine Eltern mokiert. Antti hatte sich vorerst bis Weihnachten beurlauben lassen und war froh, eine Weile aus dem Universitätsbetrieb herauszukommen, der ihn momentan anödete. Unser Familienleben war bestens organisiert, alle Beteiligten waren zufrieden – wieso fühlte ich mich trotzdem unruhig und sehnte mich nach Abenteuern?
Die Menschen, die ich auf Rödskär kennen gelernt hatte, ließen mir auch am Wochenende keine Ruhe. Am Samstag kamen Anttis Eltern, um Iidas ersten Geburtstag mit uns zu feiern.
Meine Schwiegermutter hatte eine Illustrierte mitgebracht, die ich selten las.
»Ihr habt doch auf Rödskär den Opernsänger getroffen, diesen Holma. Hier steht was über ihn.«
Der Artikel, den sie mir zeigte, hatte die Überschrift »Wie man mit Lebenskrisen fertig wird«. Zu diesem Thema waren drei Menschen interviewt worden: ein Manager mit Bauchspeichel-drüsenkrebs, eine Pastorin, deren einziges Kind tödlich verunglückt war, und Tapio Holma, der Opernsänger, der seine Stimme verloren hatte.
Tapio Holma, 42, gewann vor sechzehn Jahren den Timo-Mustakallio-Gesangswettbewerb. Von deutschen Opernbühnen umworben, hängte er seinen Beruf als Grundschullehrer an den Nagel. In den letzten fünf Jahren hatte Holma ein festes Engagement an der Hamburger Staatsoper, gastierte daneben aber regelmäßig an
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