Der Windsänger
nicht berühren! Was sollen wir nur tun? Ich will nicht alt sein!«
»Zappel nicht herum, Mumpo. Bleib ruhig.«
»Ist schon gut, Mumpo. Sie werden nicht an uns vorbeikommen.«
Denk daran, sagte Kestrel, sie sind alt und schwach und es kann immer nur einer auf uns zukommen. Wir müssen sie nur außer Reichweite halten.
»Ohne sie zu berühren«, antwortete Bowman laut.
»Haltet sie mir vom Leib!«, schrie Mumpo und schwankte vor Angst hin und her. Er wollte sich an Kestrel festhalten und brachte sie dadurch beinahe alle aus dem Gleichgewicht.
»Hör auf, Mumpo!« Wie können wir Mumpo beruhigen?
Gib ihm was zu essen.
Da fiel Kestrel ein, dass sie noch immer ihre Nussstrümpfe um den Hals trug. In einem war noch eine Nuss übrig. Sie machte den Strumpf los und reichte ihn Mumpo. »Hier, Mumpo.« Als sie den Strumpf in Mumpos Richtung schwang, spürte sie das Gewicht der Schlammnuss darin. Sie ließ ihn zurückschwingen und durch die Luft kreisen. »Bo!«, rief sie aus. »Hast du noch Schlammnüsse übrig?«
Bowman spürte die Nussstrümpfe um seinen Hals. In jedem war noch eine Nuss. »Zwei«, antwortete er.
»Ich weiß, wie wir sie uns vom Leib halten«, sagte Kestrel und schwenkte ihren Nussstrumpf.
»Schlammnüsse werden ihnen nicht wehtun.«
»Das müssen sie ja auch nicht. Wir müssen sie damit nur aus dem Gleichgewicht bringen.«
»Oder uns.«
»Denk daran, wir sind jung und gelenkig, aber sie sind alt und steif.«
Bowman war zwar ganz und gar nicht von dem Plan überzeugt, versuchte aber trotzdem seinen Nussstrumpf im Kreis herumzuschwingen. Dabei fiel er beinahe von der Mauer. Schweißüberströmt und mit klopfendem Herzen richtete er sich wieder auf. »Es geht nicht. Ich kann das nicht.«
»Du musst«, sagte Kestrel.
»Ich hab Hunger«, verkündete Mumpo. Bei all dem Gerede über Schlammnüsse hatte er seine Angst ganz vergessen.
»Sei still, Mumpo.«
»Okay, Kess.«
Die beiden ersten alten Kinder hatten sich indessen von beiden Seiten der Brüstung genähert. Hinter ihnen folgten weitere in gleichmäßigen Abständen nach. Die auf Bowmans Seite waren ihnen am nächsten und mussten zuerst abgewehrt werden.
»Schwing den Strumpf im Kreis herum, Bo«, rief Kestrel. »Bis du dein Gleichgewicht findest.«
Bowman blickte nach unten und sah nur pechschwarze Finsternis. Ich hätte ja nichts dagegen, wenn da kein Abgrund wäre, dachte er. Und während er hinunterschaute, kam ihm ein ganz einfacher Gedanke: Es ist ganz dunkel da unten. Dort kann alles sein, was ich mir vorstelle. Also ersetzte er den Abgrund durch ein anderes Bild. Da ist gar kein Riss-im-Land, sagte er zu sich selbst. Gar nicht weit unter mir ist eine schöne weiche Wiese. Dann fügte er diesem Bild noch ein paar Details hinzu: Klee und Mohnblumen und – damit sie auch echt wirkte – ein paar Brennnesseln. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass seine Angst vor dem Hinunterfallen verschwunden war. Also musste er sich nur noch um den alten Jungen sorgen, der auf ihn zuschlurfte.
Bowman schwang seinen Nussstrumpf über den Kopf und ließ ihn kreisen. Er versuchte mit der Schlammnuss auf den Kopf des alten Jungen zu zielen.
Eine weiche Wiese, eine weiche grüne Wiese, sagte er immer wieder zu sich selbst. Eine samtweiche Wiese.
»Pass auf, Kleiner«, sagte der alte Junge mit krächzender Stimme. »Hier, nimm doch meine Hand.«
Er streckte seine runzlige Hand aus und kicherte. Doch er war noch nicht nah genug herangekommen.
Kestrel schaute zur anderen Seite, den Nussstrumpf in der Hand, und beobachtete das erste alte Kind, das ihr entgegenkam. Du machst den Anfang, Bo. Schaffst du es?
Ich werde es versuchen.
Ich hob dich lieb, Bo.
Ihm blieb keine Zeit zu antworten, nicht einmal in Gedanken. Der alte Junge stand jetzt dicht vor ihm und machte eine tätschelnde Handbewegung. Bowman schwang seine Schlammnuss, die ein Stück von seinem Angreifer entfernt durch die Luft zischte.
»Warum wehrst du dich denn so?«, fragte der alte Junge. »Der Morah will es so. Das weißt du doch.«
Bowman gab keine Antwort. Er ging in die Knie, prüfte sein Gleichgewicht auf der schmalen Brüstung und ließ den Nussstrumpf allmählich schneller kreisen.
»Du brauchst keine Angst vor dem Altsein zu haben«, flüsterte ihm der alte Junge zu. »Es hält nur kurze Zeit an. Und danach macht dich der Morah wieder jung und schön.«
Er schlurfte beim Sprechen immer näher und
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