Der Windsänger
bedrückt.
Als sie den eigentlichen Wald erreicht hatten und rechts und links von hohen Bäumen umgeben waren, waren sie sicher, dass sie tatsächlich einer ehemaligen Straße folgten. Einige junge Bäumchen waren auf der freien Fläche gesprossen, doch wirklich große, alte Bäume säumten die breite Allee. So musste es auch in der längst vergangenen Zeit des Großen Weges gewesen sein. Zufrieden über ihr Vorwärtskommen, fand Kestrel, dass sie sich eine kurze Essenspause verdient hätten. Mumpo ließ sich sofort erschöpft fallen. Bowman teilte das Brot und den Käse auf und sie stillten schweigend ihren Hunger.
Kestrel beobachtete Mumpo beim Essen und merkte, wie seine gute Laune allmählich zurückkehrte. Er erinnerte sie an Pinpin.
»Du bist wie ein Baby, Mumpo«, stellte sie fest. »Du schreist, wenn du Hunger hast, und du schläfst wie ein Baby.«
»Ist das falsch, Kess?«, fragte Mumpo.
»Willst du wie ein Baby sein?«
»Ich will so sein, wie du mich haben möchtest«, erklärte Mumpo einfach.
»Also wirklich. Es hat keinen Zweck, mit dir zu reden.«
»Tut mir Leid, Kess.«
»Ich weiß wirklich nicht, wie du es all die Jahre geschafft hast, in Orange zu bleiben.«
»Wir haben ihn auch nie danach gefragt«, sagte Bowman leise.
Kestrel schaute ihren Bruder an. Es stimmte: Sie wusste so gut wie nichts über Mumpo. In der Schule war er immer derjenige gewesen, der anders war als alle anderen, einer, mit dem man nichts zu tun haben wollte. Als er dann unerwünscht ihr Freund geworden war, hatte sie seine Zuneigung als störend empfunden und ihn in keiner Weise ermuntert. Im Verlauf ihrer gemeinsamen Reise war er ihr immer mehr wie ein wildes Tier vorgekommen, das ihr nachgelaufen und dabei fast zahm geworden war. Doch er war kein Tier, sondern ein Mensch wie sie selbst.
»Was ist mit deinen Eltern passiert, Mumpo?«
Mumpo war über ihre Frage überrascht, antwortete aber bereitwillig. »Meine Mutter ist gestorben, als ich noch klein war. Und einen Vater hab ich nicht.«
»Ist er auch gestorben?«
»Das weiß ich nicht genau. Ich hab einfach keinen.«
»Aber jeder hat einen Vater. Zumindest eine Zeit lang.«
»Ich aber nicht.«
»Interessiert dich denn nicht, was aus ihm geworden ist?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Interessiert mich einfach nicht.«
»Wie kannst du eine Familiennote haben, wenn du keine Familie hast?«, wollte Bowman wissen.
»Wie kannst du im Orangefarbenen Bezirk zur Schule gehen, obwohl du…« Sie fing Bowmans Blick auf und verstummte.
»Obwohl ich so dumm bin?« Er schien überhaupt nicht gekränkt zu sein. »Ich hab einen Onkel. Ich gehe wegen meines Onkels im Orangefarbenen Bezirk zur Schule, obwohl ich so dumm bin.«
Bowman spürte, wie eine Welle der Traurigkeit über ihn kam, und er schauderte, als wäre es seine eigene Traurigkeit. »Hasst du die Schule, Mumpo?«, fragte er.
»O ja«, erwiderte Mumpo nur. »Ich verstehe nichts und ich bin immer allein. Deshalb bin ich immer unglücklich.«
Die Zwillinge schauten ihn an. Sie erinnerten sich, wie sie ihn zusammen mit den anderen ausgelacht hatten, und schämten sich.
»Aber jetzt ist alles gut«, sagte er. »Jetzt habe ich eine Freundin. Stimmt’s, Kess?«
»Ja«, antwortete Kestrel. »Ich bin deine Freundin.«
Bowman liebte seine Schwester für diese Antwort, auch wenn sie nicht aufrichtig gemeint war. Ich hab dich lieb, Kess.
»Wer ist dein Onkel, Mumpo?«
»Weiß ich nicht. Ich hab ihn nie kennen gelernt. Er ist sehr wichtig und hat eine sehr gute Familiennote. Aber weil ich so
dumm bin, will er mich nicht in seiner Familie haben.«
»Aber das ist ja furchtbar!«
»O nein, er ist sehr gut zu mir. Mrs. Chirish sagt mir das immer wieder. Er hätte eine viel schlechtere Familiennote, wenn ich in seiner Familie wäre. Deshalb ist es besser, dass ich bei Mrs. Chirish wohne.«
»O Mumpo«, sagte Kestrel. »Was für ein schlimmer, trauriger Ort ist Aramanth doch geworden.«
»Meinst du wirklich, Kess? Ich dachte, nur ich finde das.«
Bowman staunte über Mumpo. Je näher er ihn kennen lernte, desto mehr bewunderte er ihn auf eine gewisse Weise. Er schien nicht einen Funken Bosheit oder Eitelkeit in sich zu haben. Er fand sich stets mit dem ab, was ihm der Augenblick brachte, und machte sich keine Gedanken über Dinge, die er sowieso nicht beeinflussen konnte. Obwohl sein Leben so unglücklich und einsam verlief, schien er sich
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