Der Windsänger
gefertigt, waren noch heil und bildeten einen schmalen, aber ebenen Saum auf den noch vorhandenen Mauern.
Kestrel ging zu einer der Brüstungen und befühlte ihre Oberfläche. Sie wirkte stabil und war ungefähr sechzig Zentimeter breit. Kestrel blickte daran entlang, bis zu den Säulen auf der gegenüberliegenden Seite, und stellte fest, dass sie gerade und ohne Löcher war.
»Wir können auf dieser Mauer entlanggehen«, entschied Kestrel.
Bowman schwieg, doch die schmale Brüstung und die Schwindel erregende Tiefe darunter machten ihm schreckliche Angst.
»Schau einfach nicht nach unten«, sagte Kestrel, die seine Gedanken erriet. »Dann ist es so, als würdest du einen ganz normalen Weg entlanggehen.«
Ich kann es nicht, Kess.
»Wie steht’s mit dir, Mumpo? Kannst du über die Mauer zur anderen Seite gehen?«
»Wenn du gehst«, antwortete Mumpo, »gehe ich auch, Kess.«
Ich kann es nicht, Kess.
Doch noch in dem Moment, als er seiner Schwester diesen angsterfüllten Gedanken sandte, hörte er ein Schlurfen hinter sich und ein eisiger Schauer durchrieselte ihn. Er drehte sich langsam und voll Entsetzen um, weil er ahnte, was er sehen würde. Da waren sie, alle in einer Reihe, und sie hielten sich über die ganze Breite des Großen Weges an den Händen. Bedächtig kamen sie näher, kichernd wie Kinder, die ein geheimes Spiel spielen. Aber ihr Lachen klang rau und alt.
»Ihr seid weit gekommen«, sagte der Anführer. »Aber wir haben euch eingeholt.«
Mumpo begann vor Angst zu wimmern.
Kestrel warf einen Blick auf die Reihe der alten Kinder, dann einen zweiten auf die Brückenreste und sagte: »Kommt, wir gehen!« Damit sprang sie auf die Brüstung und machte sich auf zur anderen Seite.
Mumpo folgte ihr. »Nimm mich mit«, rief er, »sie dürfen mich nicht anfassen, Kess!«
Bowman zögerte noch etwas, doch er wusste, dass er keine andere Wahl hatte. Also holte er tief Luft und kletterte auf die Mauer. Mit konzentrierten, vorsichtigen Schritten folgte er den anderen beiden.
Ein paar Meter weit führte die Brückenmauer noch über den zerklüfteten Rand der Schlucht und man konnte nicht tief stürzen. Doch dann fiel eine kahle Felswand steil nach unten ab und sie hatten das Gefühl, in der Luft zu gehen. Das Tageslicht schwand rasch, aber nicht rasch genug: Als Bowman nach unten schaute – obwohl er sich geschworen hatte, es nicht zu tun –, konnte er den silbernen Faden des glitzernden Flusses so tief unten erkennen, dass ihm schwindelig wurde und er zu zittern begann.
Kestrel blieb stehen und sah sich um. Die alten Kinder waren auf die Brüstung geklettert und folgten ihnen.
»Geht einfach weiter«, sagte sie zu Mumpo und Bowman. »Denkt daran, sie sind alt und nicht so schnell wie wir. Wir werden die andere Seite lange vor ihnen erreichen.«
Sie setzte ihren Weg entschlossen fort und spornte damit die anderen an. Bowman drehte sich um und stellte fest, dass sie Recht hatte – sie überquerten die Schlucht sehr viel schneller als die alten Kinder, die bedächtig einen Schritt nach dem anderen machten.
Kestrel ging stetig voran, sie schaute geradeaus und dachte nicht an die Schlucht unter ihr. Sie dachte nur: »Die Hälfte ist geschafft, jetzt ist es nicht mehr weit«, als sie etwas auf der anderen Seite entdeckte, das ihr Herz stocken ließ: Zwischen den Säulen am Ende der Brücke standen noch mehr alte Kinder – Dutzende von ihnen. Und als sie stehen blieb, kletterten sie auf die Brüstung und schlurften auf sie zu.
Bo! Sie sind auf der anderen Seite!
Bo blickte auf, sah die alten Kinder und begriff plötzlich, dass es diesmal kein Entkommen gab. Langsam kamen sie von beiden Seiten auf sie zu. Wenn sie erst einmal in der Mitte angelangt waren, würden Mumpo und die Zwillinge sie nicht abwehren können, denn jede Berührung würde sie schwächen. Bowman blickte über den Rand der Brüstung in die Dunkelheit der endlosen Tiefe. Wie war es wohl, zu fallen – tiefer, immer tiefer – und dann auf den Felsen zu zerschmettern? Würde der Tod schnell eintreten?
Bo! Wir müssen kämpfen!
Wie denn?
Ich weiß nicht. Aber ich werde gegen sie kämpfen.
Bowman spürte den gewohnten Zorn in ihren Gedanken, und das gab ihm neuen Mut. Er überlegte angestrengt, was sie tun konnten, doch währenddessen schlurften die alten Kinder näher und näher. Da begriff Mumpo, was geschah, und geriet in Panik.
»Kess! Bo! Sie wollen uns holen! Sie dürfen mich
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