Der Winterpalast
Stimmen verfolg
ten mich auf Schritt und Tritt, in der Küche, im Schlafzimmer, im Garten.
Wir waren Fremde, Katholiken, Polen. Wir ernährten uns nicht von vergammeltem Fleisch und Biberschwänzen, wie es andere Ausländer angeblich taten, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass wir angeblich Böses im Schilde führten. Wir waren mit dem tückischen Vorsatz in dieses Land gekommen, die Russen zu unserem lateinischen Glauben zu bekehren.
Die Dienstmädchen erinnerten an die Sünden meiner Mutter. Hatte sie nicht gesagt, es sei nichts Schlimmes dabei, wenn man das Antlitz Gottes auf Bildern darstellte? Hatte sie nicht mich zurechtgewiesen, als ich mich gedankenlos auf die orthodoxe Art bekreuzigt hatte mit drei Fingern, zuerst die linke Schulter, dann die rechte? Kein Wunder, dass sie so plötzlich gestorben war. »Kaum hat sie die Hand nach dem Brot ausgestreckt, da hat es sie getroffen«, hörte ich die Mädchen flüstern. »Natürlich – an unserem Fastentag!«
Ich weiß nicht mehr genau, wann ich das Wort Cholera zum ersten Mal hörte, aber plötzlich war es in aller Munde. Ein tückisches, bedrohliches Wort, das einen Kreis um Papa und mich zog, eine Grenzlinie, die kaum mehr jemand zu überschreiten wagte. Bevor die Köchin das Haus verließ, bat sie mich, ihren noch ausstehenden Lohn ihrem Schwager zukommen zu lassen. Am selben Tag packte der Kutscher seine Sachen und ging davon. Zwei Dienstmädchen folgten seinem Beispiel. Dann verschwand der älteste und tüchtigste von Papas Lehrlingen. Lieferanten kamen nicht mehr ins Haus, sondern legten ihre Ware auf den Eingangsstufen ab. Bekannte wechselten die Straßenseite, sobald sie uns sahen. Viele Kunden sprangen ab, und so musste mein Vater bald den letzten noch verbliebenen Lehrling entlassen.
»Die Leute haben eben Angst«, sagte Papa. »Wir müssen es durchstehen, Barbara. Es wird vorbeigehen.«
Ich versuchte ihm zu glauben.
Allen Prophezeiungen der Dienstmädchen zum Trotz verschonte uns die Cholera, und die Krankheit entwickelte sich nicht zu einer Epidemie. Niemand starb mehr in den folgenden Wochen. Der Sommer kam, und die Leute redeten wieder von anderen Dingen, aber unsere Lage besserte sich nicht. Da wir uns keine Hauslehrer mehr leisten konnten, unterrichtete mich jetzt mein Vater: Er ließ mich, während er arbeitete, aus seinen deutschen Fachbüchern vorlesen und korrigierte meine Aussprache. Die Texte waren ermüdend – es wurden darin etwa Präzisionswerkzeuge oder die Unterschiede zwischen Ledersorten und -qualitäten beschrieben –, aber ich beklagte mich nicht. Wenn ich mit meiner Lektion fertig war, brachte er mir Buchführung bei, und ich war froh darüber, etwas zu lernen, das mich in die Lage versetzte, mich nützlich zu machen.
»Ein paar schlechte Monate noch, dann geht es wieder aufwärts«, sagte er immer, wenn ich die spärlichen Einkünfte zusammengezählt hatte. Am Abend, wenn er seine heiße Milch mit Honig und zerlaufener Butter, garniert mit ein bisschen zerquetschtem Knoblauch, trank, versicherte er mir, er werde bald wieder auf die Füße kommen, schließlich wusste jeder, dass er sein Handwerk verstand, oder nicht? Die neue Kaiserin war eine Tochter Peters des Großen. Bald würden in Russland Bücher wieder etwas Wichtiges sein.
Eines Morgens im Oktober, nachdem ich meine tägliche Deutschlektion hinter mich gebracht hatte, sah ich meinem Vater zu, wie er, schweigend über seinen Arbeitstisch gebeugt, mit Blattgold den Rückentitel auf einem Einband anbrachte. Er hatte mich schon öfter auf die Schattenlinien beiderseits des gerundeten Buchrückens aufmerksam gemacht. Die Schrift durfte nicht über diese Linien hinausreichen, sonst platzte das Gold ab, sobald das Buch einige Male aufgeklappt worden war.
»Ich war im Winterpalast«, sagte Papa plötzlich. Er machte eine kleine Pause, bevor er fortfuhr. »Wie deine Mutter es wollte.«
Ich hielt den Atem an.
»Es waren viele Bittsteller da. Ich musste stundenlang anstehen, bevor ich zur Audienz vorgelassen wurde. Ich habe dir nichts davon erzählt, weil ich nicht wusste, ob es überhaupt etwas bringt. Aber deine Mutter hatte recht: Die Kaiserin hatte nicht vergessen, dass ich damals, als sie noch eine Prinzessin war, dieses Gebetbuch restauriert habe.«
Er erzählte Elisabeth von Mamas Tod und wie die Cholera sein Geschäft ruiniert hatte, sodass mittlerweile fast all seine Rücklagen aufgezehrt waren. »Aber das hat meinen Mut nicht gebrochen,
Weitere Kostenlose Bücher