Der Winterpalast
gehörte.
Jahrelang fuhr mein Vater jeden Montagmorgen zur Kunstkamera, um die Bücher auszuwählen, die in dieser Woche restauriert werden sollten. Wenn er nach Hause kam, rochen seine Kleider nach Staub und Schimmel. Die Dienstmädchen weichten sie vor dem Waschen über Nacht ein, und trotzdem, behaupteten sie, verfärbte sich am nächsten Tag das Waschwasser schwarz. Ich sah, wie sie das Kreuzzeichen schlugen – mit drei Fingern, die linke Schulter zuerst, wie es bei den Orthodoxen üblich ist –, bevor sie die Kleider meines Vaters anfassten. »Vom Teufel ist noch nie etwas Gutes gekommen«, sagten sie.
»Machen dir diese grausigen Missgeburten keine Angst?«, fragte ich Papa einmal.
Er antwortete mit einer Gegenfrage: »Sind die nicht auch natürliche Wesen – wie kann irgendetwas auf der Welt nicht nach den Gesetzen der Schöpfung geschaffen sein?« Ich sah in seinen Augen etwas wie Enttäuschung aufflackern. »Du solltest das Wort Missgeburt niemals verwenden, Barbara.«
Das hat mir zu denken gegeben bis heute. Ich achte auf Wörter, die unsere Gedanken lenken, unser Schicksal.
Eine Zunge .
Eine Informantin.
Eine Kaiserin.
Eine Spionin.
Sechs Jahre nach unserer Übersiedlung nach Sankt Petersburg starb Kaiserin Anna. Sie hatte den erst wenige Wochen alten Iwan VI . zu ihrem Nachfolger bestimmt und ihren deutschen Minister Biron zum Regenten. Die Garderegimenter waren damit nicht einverstanden: Intrigante Ausländer, so wurde gemurrt, rissen die Macht an sich und plünderten Russland aus. Was würden sie als Nächstes tun? Würden sie den orthodoxen Glauben unterdrücken? Schon bald ging die Regentschaft von Biron auf die Mutter des Säuglings Anna Leopoldowna über, doch die Klagen darüber, dass Fremde das Reich beherrschten, hörten nicht auf. Als ein Jahr später, am 25. November 1741, ein Garderegiment, an seiner Spitze Prinzessin Elisabeth, die einzige noch lebende Tochter Peters des Großen, den Winterpalast stürmte, jubelte ganz Russland. Es war höchste Zeit, so die allgemeine Meinung, dass endlich eine durch und durch russische Prinzessin das, was von ihrem Erbe noch übrig war, in Besitz nahm.
Sobald die Prinzessin an der Macht war, ließ sie die deutschen Berater der gestürzten Regentin verbannen. Ein triumphierendes Dekret verkündete das Ende der »entwürdigenden Fremdherrschaft«. Ein weiterer Ukas verbot es, den Namen Iwans VI . zu nennen. Alle Münzen mit seinem Bildnis wurden eingeschmolzen. Jedem, der sich den Befehlen der neuen Herrscherin widersetzte, sollte die rechte Hand abgehauen werden. Im April 1742 wurde die Prinzessin, die meinen Vater gebeten hatte, ihr kostbares Gebetbuch neu zu binden, zur Kaiserin des russischen Reichs gekrönt.
»Geh zu ihr«, drängte Mama meinen Vater. »Bring dich ihr in Erinnerung. Biete ihr deine Dienste an.«
Mein Vater zögerte. Er hatte nach dem Tod von Kaiserin Anna keine Aufträge mehr von der kaiserlichen Bibliothek erhalten, aber er war mittlerweile etabliert und hatte mit Arbeiten für private Kunden immer reichlich zu tun. »Es geht uns gut«, hörte ich ihn zu Mama sagen. »Wir sind glücklich und zufrieden, was willst du mehr?«
»Tu es für deine Tochter«, erwiderte sie. »Damit wir uns um ihre Zukunft keine Sorgen zu machen brauchen.«
Papa weigerte sich nicht, ihre Bitte zu erfüllen, aber er fand immer Gründe, die Sache aufzuschieben. Die Kaiserin wollte in wenigen Tagen eine Wallfahrt antreten. Es war Fastenzeit, und die Kaiserin war geschwächt. Es war kurz vor Ostern. Der Hof erwartete die Ankunft des Neffen der Kaiserin. Die Vorbereitungen für die Krönung waren in vollem Gange. Zu viele Bittsteller standen vor dem Audienzsaal Schlange.
Und dann, an einem schönen Morgen im April, als Mama in mein Schlafzimmer kam, um mich zu wecken, sah ich, wie sie die Hand auf ihren Bauch drückte und sich krümmte. »Es ist nicht so schlimm, Basieńka«, versicherte sie mir und zwang sich zu einem Lächeln. »Wahrscheinlich war eine von den Austern schlecht, die wir gegessen haben.« Sie hatte rote Flecken in den Augäpfeln.
»Es geht mir schon wieder besser«, sagte sie, als sie mir in das Kleid half, das das Mädchen zurechtgelegt hatte. »Beeil dich, Papa wartet auf uns.«
Unser Osterfest war vorbei, aber das der orthodoxen Kirche stand noch bevor; nach dem alten Kalender sollte es noch eine Woche dauern bis Karfreitag. Wir setzten uns an den Frühstückstisch, das russische Personal fastete.
An diesem Aprilmorgen
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