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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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Wiege und küsste seine rosigen Wangen, bevor sie ihn seiner Mutter übergab und die beiden ins Gefängnis bringen ließ.
    Sie hatte es gern, wenn immer wieder daran erinnert wurde, dass seit ihrer Machtergreifung keinem ihrer Untertanen der Kopf abgeschlagen worden war, aber von abgeschnittenen Zungen und Ohren, von den zerfleischten Rücken derer, die mit der Knute gepeitscht wurden, durfte niemand reden. Auch nicht von den Delinquenten, die an ein Brett genagelt und ins eisige Wasser von Flüssen geworfen wurden. O ja, auch die Sanftmut ist eine trügerische Maske.
    Ich hätte der hübschen Kleinen aus Zerbst sagen können, dass das Leben am russischen Hof ein Spiel ist, und zwar eines, bei dem alle Tricks erlaubt sind. Jeder beobachtet jeden. Es gibt keinen einzigen Raum in diesem Palast, wo Sie wirklich allein sein können. Hinter den Wänden verlaufen Geheimgänge, ein labyrinthisches System von Korridoren, durch die man, wenn man sich auskennt, ungesehen in jedes Zimmer gelangt. Wandvertäfelungen klappen auf, Regale lassen sich zur Seite schieben, versteckte Röhren leiten den Schall: Sie müssen immer damit rechnen, dass jemand Sie belauscht, jedes Wort, das Sie sprechen, kann vielleicht früher oder später gegen Sie verwendet werden. Jeder Mensch, dem Sie vertrauen, kann Sie verraten.
    Man wird Ihre Schränke durchsuchen. Auch unter doppelten Böden und in ausgehöhlten Büchern sind Ihre Geheimnisse nicht sicher. Man wird Ihre Briefe kopieren, bevor man sie auf den Weg bringt. Wenn Ihre Kammerjungfer Ihnen meldet, dass ein Stück Ihrer Unterwäsche abhanden gekommen ist, so befindet es sich vielleicht in einer sorgsam verkorkten Flasche, die irgendwo in einem Magazin aufbewahrt wird für den Fall, dass man eines Tages vielleicht eine Geruchsprobe von Ihnen braucht, damit ein Spürhund Ihre Witterung aufnehmen kann.
    Nehmen Sie sich in Acht! Lernen Sie die Kunst der Täuschung! Wenn man Sie ins Verhör nimmt – und mag es auch nur wie ein belangloser oder scherzhafter Wortwechsel wirken –, haben Sie nur wenige Sekunden Zeit, Ihre Gedanken zu verbergen, Ihr wahres Ich zu unterdrücken, damit Sie sich nicht verraten. Den Augen und Ohren eines Inquisitors entgeht nichts.
    Hören Sie auf mich.
    Ich weiß, wovon ich spreche.
    Die Person, gegen die Sie keinen Argwohn hegen, ist am gefährlichsten.
     
    Sobald sie auf den russischen Thron gelangt war, machte Kaiserin Elisabeth deutlich, dass sie entschlossen war, allein, ohne einen Ehemann an ihrer Seite, zu herrschen. Da sie keine Kinder haben würde, musste das Problem der Thronfolge auf andere Weise gelöst werden, und sie entschied sich dafür, den verwaisten Sohn ihrer Schwester, Karl Peter Ulrich, Herzog von Holstein, nach Sankt Petersburg kommen zu lassen. Als der Junge vor ihr stand, schlaksig und mager, die Augen blutunterlaufen vor Erschöpfung nach der langen Reise, drückte sie ihn an ihren wogenden Busen. »Das Blut der Romanows«, verkündete sie, »der Enkel Peters des Großen.« Sie sorgte dafür, dass er zum orthodoxen Glauben übertrat, gab ihm den Namen Peter Fjodorowitsch und machte ihn zum Kronprinzen. Er war vierzehn Jahre alt. Sie fragte ihn nicht, ob er bei ihr leben und später einmal Herrscher über das russi
sche Reich werden wollte. Und dann, nachdem er eben fünfzehn geworden war, fragte sie ihn auch nicht, ob er eine Braut haben wollte.
    Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst. Zuerst kam ihr Porträt nach Russland – ich erinnere mich noch gut an den großen Moment, als es enthüllt wurde. Solche Porträts sind nicht dafür da, eine Person möglichst wahrheitsgetreu abzubilden, vielmehr sollen sie ihre Reize ins rechte Licht setzen.
    »Was?«, hörte ich den Reichskanzler Bestuschew sagen, als die Kaiserin Sophie zum ersten Mal erwähnte. »Wieso ausgerechnet sie?« Er verwies darauf, dass man durch eine wohlüberlegte Heiratspolitik russische Interessen sichern müsse. Und man müsse auch an das Machtgleichgewicht in Europa denken – Preußen werde zu stark. »Majestät sollten eine sächsische Prinzessin in Erwägung ziehen.«
    Die Kaiserin unterdrückte ein Gähnen. »Ich habe noch nichts entschieden«, sagte sie. Ihr Neffe Peter saß zu ihren Füßen, seine langen weißen Finger drehten seinen mit einem Türkis besetzten Ring, als zöge er eine Schraubenmutter fest.
    In den folgenden Wochen hörte ich harsche Urteile über Sophies Vater: Der Fürst sei ein Schwachkopf, ein preußischer General, der unter

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